Gehen wir 150 Jahre zurück ins Stadthaus Genf, wo die Konvention unterzeichnet wurde. Was bedeutete das damals?
Jakob Kellenberger: Das bedeutete damals ausserordentlich viel. Die Konvention fordert, dass das medizinische Hilfspersonal respektiert und geschützt wird und Zugang hat zu den Verletzten und Kranken. Kriegsführende Parteien verpflichten sich, Verletzte und Kranke zu bergen und zu pflegen. Man muss das vor dem Hintergrund der Schlacht von Solferino 1859 sehen. Das war eine sehr blutige Schlacht mit weit über 10’000 Verletzten auf beiden Seiten, die man völlig unversorgt hatte liegen lassen.
Die Genfer Konvention wurde in den vergangenen 150 Jahren mehrmals angepasst. Nach den beiden Weltkriegen wurde 1949 der Schutz von Zivilpersonen, Verwundeten und medizinischem Personal festgeschrieben und die Behandlung der Kriegsgefangenen geregelt. Wie wichtig war dieser Schritt aus heutiger Sicht?
Der Schritt von 1949 war aus verschiedener Hinsicht ausserordentlich wichtig. Das Wichtigste war, dass man endlich einen Schutz der Zivilbevölkerung hatte. Im Zweiten Weltkrieg kamen 27 Millionen Zivilpersonen um. Es war also absolut dringend, eine Konvention zu ihrem Schutz zu haben. Und das zweite war: Bei der Revision 1949 wurde auch ein Artikel eingeführt zum Schutz von Personen in nicht internationalen Kriegen, also in Kriegen, die sich nicht zwischen Staaten abspielen. Das hatte vorher gefehlt. Der spanische Bürgerkrieg 1936 bis 1939 hatte gezeigt, was für eine enorme Lücke das war.
Im Gaza-Krieg, in der Ost-Ukraine oder im Irak sind nicht mehr zwei Staaten, die einen Krieg beginnen und miteinander beenden, sondern Staaten und nicht-staatliche Konfliktparteien. Welche Rolle kann die Genfer Konvention in solchen Konflikten spielen?
Sie hätten auch noch Afghanistan beifügen können. Diese nicht-staatlichen Kriege gab es schon vorher, aber niemals in dem Ausmass wie heute. Gott sei Dank hat bei diesen nicht-zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen die Genfer Konvention gegriffen. Es heisst in der Konvention, dass Menschen, die nicht am Krieg teilnehmen – Zivilpersonen, die verletzt sind – behandelt werden müssen. Da ist auch erklärt, was verboten ist, wie Angriffe auf ihr Leben oder ihre Würde. Man muss sich einsetzen bei den kriegsführenden Parteien, seien es jetzt Staaten oder Nicht-Staaten für die Einhaltung des Rechts.
Mit dem Gaza-Krieg haben wir ein aktuelles Beispiel, das viele Menschen beschäftigt. Zwei Stichworte: Der Beschuss von Zivilisten durch Hamas-Raketen und umgekehrt die Bombardierung einer UN-Schule durch die israelische Armee. Müsste die Genfer Konvention aufgrund dieser Konflikte nicht neu formuliert werden?
Nein. Was dieser Konflikt zeigt ist, dass es eine ständige Aufgabe bleibt, die Konfliktparteien aufzufordern, dass die Vereinbarungen der Genfer Konvention respektiert werden. Es ist verboten, Zivilpersonen anzugreifen. Bei einem Angriff muss man unterscheiden zwischen Kombattanten und Zivilpersonen. Es geht in erster Linie um die verbesserte Einhaltung von Regeln, die schon bestehen, und das ist ein grosses Problem.
Wie kann man denn die nicht-staatlichen Gruppen wie zum Beispiel die Hamas in Konflikten zur Umsetzung der Genfer Konvention anhalten? Ist das überhaupt möglich?
Das ist natürlich mit nicht-staatlichen Gruppen sehr viel schwieriger auszuhandeln. Aus sehr praktischen Gründen: Sie sind sehr oft schwer erreichbar. Sie sind nicht organisiert wie Staaten. Sie haben keine grossen Säle für die Unterrichtung der Regeln. Ich habe oft mit nicht-staatlichen Konfliktparteien verhandelt wie mit den Taliban. Es ist sehr wichtig, dass sie wissen, auch sie müssen die Regeln einhalten. Und zweitens: Der Aufbau des Dialogs ist mit ihnen viel schwieriger als mit Staaten. Aber es wäre eine falsche Annahme, zu meinen, Staaten würden grundsätzlich die Regeln einhalten und nicht-staatliche Konfliktparteien würden sie grundsätzlich nicht einhalten.
Ein Kerngedanke der Genfer Konvention ist, dass die Parteien auch im Krieg eine gewisse Menschlichkeit behalten. Wie sieht das heute aus?
Beiträge zum Thema
- Zwischen den Fronten – IKRK Delegierte (Folge 1), 28.3.2014
- Zwischen den Fronten – IKRK Delegierte (Folge 2), 4.4.2014
- Zwischen den Fronten – IKRK Delegierte (Folge 3), 11.4.2014
- Zwischen den Fronten – IKRK Delegierte (Folge 4), 25.4.2014
- Zwischen den Fronten – IKRK Delegierte (Folge 5), 2.5.2014
- Zwischen den Fronten – IKRK Delegierte (Folge 6), 9.5.2014
Wenn ich seriös bin, kann ich Ihnen keine allgemeine Antwort geben. Das kommt auf die einzelnen Kriege an. Ich war in vielen Kriegsgebieten. Da sieht man natürlich Unterschiede. Man muss darauf bestehen, bestehen, bestehen, dass im Krieg eine gewisse Menschlichkeit herrscht. Das Beste ist natürlich: Den Krieg vermeiden.
Die Genfer Konvention wird heute 150 Jahre alt, ist sie ein Erfolgsmodell?
Mit dem Begriff Erfolgsmodell kann ich im Kriegs-Völkerrecht nicht gut leben. Was ich mit gutem Gewissen sagen kann, ist: Wenn es die mittlerweile vier Konventionen und die drei Zusatzprotokolle nicht gäbe, dann wäre es sicherlich viel schlechter um die Verhältnisse bestellt als jetzt, wo es sie gibt.
Aber eine der ganz grossen Herausforderungen in der Zukunft ist, noch viel mehr zu machen, damit die bestehenden Regeln besser eingehalten werden. Das ist eine besondere Herausforderung bei den nicht-staatlichen Konfliktparteien, aber auch bei den Staaten.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktualität, 22.8.2014, 7:10 Uhr.