Längst ist sie weltberühmt: die postkartengleiche Silhouette von Istanbul, mit ihren Minaretten und Kuppeln. Kein Tourist, der die Bosporusmetropole verlässt, ohne die Süleymanie-Moschee hoch über der Altstadt oder den prächtigen Dolmabahçe-Palast direkt am Flussufer bewundert zu haben. Nur, dass die Architekten vieler dieser Wahrzeichen ausgerechnet Christen waren, das wissen selbst die meisten Istanbuler heute nicht mehr.
Armenier waren die besten Architekten
«Bestimmte Berufe waren den Nichtmuslimen im Osmanischen Reich verwehrt», erklärt Hasan Kuruyazici, der eine Ausstellung zu Istanbuls armenischen Architekten konzipiert hat. Eine Beamten- oder Militärlaufbahn zum Beispiel durften damals nur Muslime einschlagen. Christen mussten sich ihre Nischen suchen. Nicht selten studierten sie in Europa Architektur. Gut ausgebildet kamen sie zurück in ihre Heimat, wo die Osmanischen Sultane sie für ihre prestigeträchtigen Bauprojekte engagierten.
Dass Armenier als die besten Architekten galten, war damals kein Geheimnis. Wer aber in der heutigen Türkei an Tatsachen wie diese erinnern möchte, erntet dafür nicht nur Beifall. Als Vaterlandsverräter beschimpfen Nationalisten jeden, der wie Hasan Kuruyazici mit seiner Ausstellung daran erinnert, wie sehr auch christliche Bewohner des Osmanischen Reiches Istanbul einst prägten.
Genozid oder «Kollateralschäden»?
Genau 100 Jahre sind seit den Massakern vergangen, die im Jahr 1915 Hunderttausende armenische Christen das Leben oder zumindest die anatolische Heimat kosteten. Von zahlreichen Staaten längst als Genozid verurteilt, spricht die türkische Regierung bis heute von «Kollateralschäden» damaliger Kriegswirren. Ein Grossteil der Bevölkerung stimmt ihr darin zu.
«Wie sollten sie es auch besser wissen?», fragt Zeynep Taşkın von der armenischen Hrant-Dink-Stiftung in Istanbul. Als eines von vielen Kulturprojekten hat sie die Architekturausstellung von Hasan Kuruyazici unterstützt. «In türkischen Schulen werden die Armenier immer noch als Verräter dargestellt, die das Osmanische Reich von hinten angreifen wollten», klagt Taşkın. «In der Geschichte unserer Republik gab es immer einen besonderen Ehrgeiz die Spuren der Vergangenheit zu beseitigen. Auch die kulturellen.»
Kämpfen gegen das Vergessen
Spurensuche – ein Ziel, das längst nicht nur die Hrant-Dink-Stiftung mit ihren Projekten verfolgt. Zahlreiche Initiativen tun es ihr inzwischen gleich. So zum Beispiel der kleine Aras-Verlag, der im Zentrum Istanbuls gegen das Vergessen kämpft, indem er sich auf die Übersetzung armenischer Literatur ins Türkische spezialisiert hat. Oder die allein mehr als 20 Chöre, die armenische Lieder zu neuem Leben erwecken.
Gut 45'000 Armenier leben heute noch in Istanbul. In einer Stadt mit etwa 16 Millionen Einwohnern ist ihre Zahl damit fast verschwindend gering. Und beinahe täglich schrumpft sie weiter. Denn auch wenn die Zeiten staatlicher Verfolgung längst vorbei sein mögen, gleichberechtigt fühlen sich viele Christen am Bosporus noch lange nicht. Gerade junge Armenier verlassen die Türkei häufig, um ihr Glück in Europa oder Amerika zu suchen.
Viele Armenier sprechen kein Armenisch mehr
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«Von einem aktiven armenischen Leben in Istanbul kann man kaum noch sprechen», meint deswegen Pakrat Estukyan von der armenischen Wochenzeitung «Agos». Nicht nur, dass viele Armenier ihre Heimat verliessen. Mehr als die Hälfte von ihnen spräche heute auch kein Armenisch mehr.
Um nicht aufzufallen, gäben sie ihren Kindern typisch türkisch klingende Namen. Viele Armenier, so der Journalist, schämen sich heute für ihre Identität. «Die Leute haben ihren Kindern jahrzehntelang eingetrichtert: ‹Sag niemandem, dass du Armenier bist!›»
Wenn heute jemand vom angeblich multikulturellen Istanbul spricht, dann lacht Pakrat Estukyan spöttisch auf. Und er ist längst nicht mehr allein mit seiner Befürchtung, dass die langsame Öffnung der türkischen Gesellschaft für die verbliebenen Armenier bereits zu spät kommen könnte. Was bringt es noch, fragen sie, wenn das Wort «Armenier» inzwischen zwar kein Schimpfwort mehr ist – aber trotzdem kaum noch jemand da ist, der sich öffentlich zu seiner Herkunft bekennt?