Sie erinnern sich an Sätze wie «Gerade sitzen und Mund zu beim Essen» oder «Mit dieser Jeans kannst Du nicht zu einem Vorstellungsgespräch gehen»? «Ach was», dachten wir: «Wenn ich wegen dieser Hose nicht eingestellt werde, ist es sowieso nicht der richtige Ort für mich. Mode verdeckt das wahre Selbst und gute Manieren sind etwas für Spiesser und Karrieristen.»
Man genoss in den 60er-Jahren die neuen Freiheiten, die der allgemeine Aufbruch mit sich brachte. Endlich war Schluss mit den starren Kleider- und Verhaltensnormen: Natürlichkeit und Individualität wurden gross geschrieben und jeder durfte wie er wollte – Hauptsache bequem, entspannt und authentisch.
Kurze Hosen und Adiletten
Seither zogen einige Jahre durchs Land und zum Teil machen unsere mittlerweile erwachsenen Kinder vor, was heute angesagt ist, nämlich angemessene Kleidung und situationsgerechtes Benehmen. Das löst bei all jenen Verunsicherung aus, die sich beim Businesslunch genauso verhalten wie beim Familienausflug, in kurzen Hosen und Adiletten zur Arbeit gehen und jede Art von Galanterien rundweg ablehnen.
Warum sollte man als Mann der Partnerin die Türe aufhalten, die findet das ohnehin unemanzipiert. Umso verunsichernder aber, wenn diese Frau dahinschmilzt, wenn ein anderer ihr elegant und selbstverständlich den Stuhl zurechtrückt und ihr in den Mantel hilft.
Die moderne Galanterie
Im Beobachter Verlag ist 2012 der erste Schweizer Knigge erschienen. Autor und Stilexperte Christoph Stokar sammelte darin «Musts» und «Don’ts» im Schweizer Alltag, in der Businesswelt und in den privaten Kontakten. Und er konstatiert, dass es bei den Umgangsformen noch einiges zu verbessern gebe. Nicht nur was die allgemeine Höflichkeit im öffentlichen Raum betrifft, auch beim Smalltalk, bei Tisch, als Gastgeber und als Gast sei Vieles unklar.
Er plädiert zum Beispiel dafür, dass der «aufgeklärte Mann die Mittel der Zuvorkommenheit intelligent, liebenswürdig und stilbewusst zum Vorteil aller einsetze». Zur «modernen Galanterie» gehören unter anderem, dass der Mann der Frau nicht nur den Mantel abnimmt, sondern ihr auch den besseren Platz am Tisch im Restaurant überlässt, sich erst nach ihr hinsetzt und aufsteht, wenn sie sich zum Beispiel zur Toilette begibt. Ist das nicht etwas antiquiert? «Das mag sein, aber es ist sehr effizient – das Geschlechterspiel muss man etwas zelebrieren», so Stokar.
Die Schweiz hat modischen Aufholbedarf
Auch für jene, die in Sachen Mode- und Stilbewusstsein nicht ganz sattelfest sind, gibt es im «Schweizer Knigge» konkrete Vorschläge. Da wir in der Schweiz keine allgemeingültigen Dresscodes kennen, schaut man sich am besten um, was im Betrieb, in dem man arbeitet, getragen wird. Je nach Art und Grösse der Firma und je nach Position in der Hierarchie, gelten andere Kleiderregeln.
Die Bedeutung des «gepflegten Erscheinungsbilds im beruflichen Kontext» hat wieder zugenommen. Und genau da sieht die Stilexpertin Bettina Weber, Ressortleiterin des Gesellschaftsbundes der «Sonntagszeitung», Aufholbedarf in der Schweiz. «Die Schweiz hat keine Modetradition, das wirkt sich sehr darauf aus, wie wir Mode wahrnehmen», sagt Weber. Dies ganz im Gegensatz zu Frankreich oder Italien.
Gleichgültigkeit als Fauxpas
Zumindest im Beruf und im öffentlichen Raum kommen wir also kaum mehr darum herum, uns zu fragen, wo, was üblich- und was davon unumgänglich ist. Und dennoch findet der Kniggeautor Christoph Stokar, gehe es nicht primär um das «korrekte Benehmen» in jeder Lebenslage, sondern vielmehr um Aufmerksamkeit, Respekt und Interesse für andere und für sich selber.
Vielleicht ist also der schlimmste Fauxpas im Zusammenleben die Gleichgültigkeit. Sie schafft Einzelgänger, die sich jederzeit alles erlauben dürfen, weil sie nichts zu verlieren haben.