Eine Kathedrale, da denken wir an einen imposanten Bau aus dem Mittelalter, an ein sakrales Monument, einen Zeugen aus einer früheren Zeit. Die Sagrada Família in Barcelona ist tatsächlich ein imposanter sakraler Bau und Zeuge einer früheren Zeit. Andererseits: Sie ist noch im Werden, in unserer Zeit.
Stile mehrerer Epochen in einem Gebäude
Ihr Anblick ist nicht mit anderen Gotteshäusern zu vergleichen: Stehen die Reisenden vor dem bekannten Postkartenmotiv, lassen sie zuerst die Dimensionen dieses Riesens ehrfürchtig in den Himmel blicken. Acht Türme schrauben sich neben farbigen Baukränen spindelförmig in schwindelerregende Höhe. 18 sollen es insgesamt werden. Der imposanteste, der Christusturm, soll mit 170 Metern zum höchsten Kirchturm der Welt werden.
Und dann die Fassaden: Bei der einen, noch von Gaudí begonnenen, dominiert blumiges Geschnörkel. Auf einer anderen hat ein moderner Künstler Skulpturen voller Ecken und Kanten platziert; mittendrin ein komplett nackter Jesus am Kreuz, der die Gemüter zeitweise ganz schön erhitzte. Eine weitere Fassade, die Gorienfassade, ist erst eine grosse, leere Wand.
Gaudís Opus Magnum
Das Äussere des riesigen Gotteshauses spiegelt seine bewegte Geschichte. Eine Geschichte, die wiederum Sinnbild des unruhigen Werdegangs Kataloniens und Spaniens ist. Im Jahr 1882 legt man auf einem Feld den Grundstein für eine Kirche in neugotischem Stil. Nach einem Jahr überwirft sich der Architekt mit den Bauherren. Sein Nachfolger wird der erst 31-jährige Katalane Antoni Gaudí. Die Sagrada Família wird sein Opus Magnum: 43 Jahre lang verschreibt er sich ihr. Am Schluss schläft er sogar in seiner Kirche, verwahrlost wie ein Bettler – alles Weltliche interessiert ihn nicht mehr.
Er weiss, dass er die Vollendung nicht mehr erleben wird. Deshalb bedient sich Gaudí eines Tricks: Er lässt zuerst eine Fassade bauen. So würden künftige Generationen anhand der vier imposanten Türme sehen, was an Arbeit noch zu tun ist, und seinen Bau vollenden. Nach seinem Tod übernimmt sein Schüler die Leitung. Der Weiterbau wird zu einer Zitterpartie: 1936, zehn Jahre nach Gaudís Tod, geht im Bürgerkrieg seine Werkstatt in Flammen auf. Die Zeichnungen verbrennen, die Gipsmodelle brechen in tausend Stücke. Mit dem Bauen ist es erst einmal vorbei. Erst knapp zwanzig Jahre später nimmt man die Arbeiten wieder auf.
Die Stadt macht nicht mit
1976, ein Jahr nach Francos Tod, werden die vier Türme der Passionsfassade eingeweiht. 1992 sorgen die Olympischen Spiele für einen nicht mehr endenden Besucherstrom in Barcelona. Die ewige Baustelle wird zum meistbesuchten Monument Spaniens: Gegen drei Millionen Touristen aus aller Welt wollen jedes Jahr für unterdessen knapp 20 Euro einen Blick in das Innere der Baustelle werfen. Diese Finanzierung gibt dem Projekt wieder Schub, trotz Spaniens immer prekärerer Wirtschaftslage. 2010 segnet Papst Benedikt den fast fertigen Innenraum der Kirche.
Schon jetzt weiss man aber, dass die Sagrada Família nicht so aussehen wird, wie einst von Gaudí geplant. Denn die Stadt Barcelona legt ihrem touristischen Goldesel immer wieder Steine in den Weg, oder besser gesagt, Häuser. Zum Entwurf der noch unvollendeten Glorienfassade – dem eigentlichen Eingangsportal – gehörte eine breite, über 200 Meter lange Allee. Der kleine Park war 1976 bereits eingezont. Doch kurz bevor der Zonenplan in Kraft trat, winkte die Stadt eine Baubewilligung mitten in dieser Grünzone durch. Alle Proteste nützen nichts.
Offene Fragen
Auch von unten droht dem Jahrhundertwerk Ungemach: Für einen Hochgeschwindigkeitszug von Barcelona nach Paris wird derzeit in 30 Metern Tiefe ein Tunnel gebaut, direkt unter der Glorienfassade. Auch hier läuft der Widerstand der Bevölkerung ins Leere, und die ernsthaften Bedenken der Architekten bleiben ungehört. Die Frage stellt sich, wie viel Raum die Stadt ihrem Wahrzeichen und Touristenmagneten eigentlich geben will.
Häufiger ist aber eine andere Frage zu hören: Wann wird das Monument fertig sein? Meist wird das Jahr 2026 genannt, wenn sich Gaudís Tod zum 100. Mal jährt. Dafür immerhin sieht es offenbar recht gut aus.