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Gesellschaft & Religion «Die Schande, ein Weib zu sein»: Grossmutter, die erste Pfarrerin

Am 13. September 1931 wählte ein Bündner Bergdorf mit Greti Caprez-Roffler eine Frau zur Pfarrerin, als erste Gemeinde Europas. Über 80 Jahre danach macht sich die Enkelin Christina Caprez auf die Spuren ihrer Grossmutter.

«Nun gibt es wohl nichts anderes mehr als hindurch, und wenn es auch noch so schwer werden sollte», schrieb meine Grossmutter in ihr Tagebuch, als sie sich entschied, im Prättigauer Bergdorf Furna eine Stelle als Pfarrerin anzunehmen. Das war im September 1931.

Kein Kanton, keine Gemeinde hatte bis dahin eine Frau zur Pfarrerin gewählt. Weder in der Schweiz, noch irgendwo sonst in Europa. Mich hat immer beeindruckt, dass meine Grossmutter eine Pionierin war, eine Frauenrechtlerin, die erste Pfarrerin Graubündens. Doch explizit mit ihr darüber gesprochen habe ich nie. Umso gebannter lese ich jetzt in den vergilbten Dokumenten.

«... dass es eine Schande ist, ein Weib zu sein»

«Ich habe es zuvor vielleicht geahnt, aber noch nie mit so grausamer Deutlichkeit erfahren müssen, dass es eine Schande ist, ein Weib zu sein», schreibt Greti Caprez-Roffler, als sich 1932 die Fronten zwischen der Kirchgemeinde Furna und dem kantonalen Kirchenrat verhärten. Der Kirchenrat erklärt die Wahl der Pfarrerin als rechtswidrig und damit ungültig: Ein Frauenpfarramt müsse erst noch geschaffen werden.

Doch die Furner denken nicht daran, sich nach denen im Tal in Chur zu richten. Sie seien ja schon nah genug beim Himmel, da reiche es, wenn ihnen ein «Femininum» den Weg weise, sagte ein Bauer.

Mann und Vater zurück in die Familie!

In den Medien wurde damals besonders kontrovers diskutiert, dass Greti Caprez-Roffler Mutter eines neunmonatigen Sohnes war und in Furna als Pfarrerin arbeitete, während ihr Mann in Zürich eine Stelle als Ingenieur hatte. Sie verteidigte ihre Familie im Schweizerischen Frauenblatt vom 11. Dezember 1931.

Eine Haushälterin kümmere sich zuverlässig um Haus und Kind, schrieb sie. Überhaupt müsse man die Fragen, die man ihr stelle, auch allen Vätern stellen: «Ich würde es für unsere Zeit für viel dringlicher halten, den Ruf zu erheben: den Mann und Vater mehr zurück in die Familie, mehr Zeit für Frau und Kind, mehr Zeit auch Mensch zu sein.»

Die Söhne lernten stricken

Greti Caprez-Roffler wollte vieles anders machen als ihre Zeitgenossen. Nicht nur als berufstätige Frau, sondern auch als Mutter. Ihre Söhne lernten stricken und halfen im Haushalt genauso mit wie die Töchter. Ihren Kindern wollte sie «Freund und Kamerad» sein. Dies gelang ihr jedoch nicht, finden ihre heute 70- bis 80-jährigen Söhne und Töchter.

Margreth, das vierte von sechs Geschwistern, wurde ebenfalls Pfarrerin. Heute sagt sie, sie habe sich von klein auf von ihrer Mutter bestimmt gefühlt. Gaudenz wiederum, der jüngste Sohn und mein Vater, vermisste von seinen Eltern Interesse und Anteilnahme an dem, was ihn bewegte.

Eine Herausforderung für ihre Zeitgenossen

Was bleibt? Auf meiner Reise durch die Zeiten, durch Briefe und Tagebücher von den 1920er-Jahren bis in die Gegenwart, habe ich eine Frau angetroffen, die ihrer Zeit weit voraus war.

Sie forderte ihre Zeitgenossen und ihre Familie mit ihrem festen Willen und ihrer direkten, bestimmenden Art immer wieder heraus. Eine Frau, die auch sich selber mit ihren Ansprüchen immer wieder überforderte. Aber auch eine Frau, die für viele nachfolgende Pfarrerinnen ein Vorbild war.

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