Peter Burschel, Sie forschen zur Bedeutung von Reinheit in der Menschheitsgeschichte. Warum interessiert sich ein Historiker für einen Begriff aus der Hygiene?
Wenn wir uns oder Gegenstände waschen, hat dies nicht nur etwas mit Hygiene zu tun. Ich erkenne darin einen geschichtlichen Mehrwert, der über Sauberkeit im engeren Sinne hinausreicht. Das würde ich als Reinheit bezeichnen.
Das heisst?
Nehmen Sie das Beispiel der Waschmittelwerbung. Es geht da nicht bloss um saubere Wäsche. Die Spots vermitteln immer auch Werte: Etwa, wie wir zusammenleben, wie die Rollenverteilung innerhalb der Familie aussieht oder welchen Hobbys die Kinder nachgehen sollten.
Reinheit wird zu einer Ordnung der Dinge.
Sie verwenden in Ihrem Buch dafür den Begriff des kulturellen Codes.
Genau, so wie ich Reinheit verstehe, beinhaltet sie ethische Aspekte, die mir sagen, wie ich mich moralisch-sittlich richtig verhalte. Sie hilft also, mich selbst zu definieren – und gleichzeitig die Welt. Reinheit wird zu einem Ideal, zu einem Schlüsselbegriff menschlichen Zusammenlebens.
Allerdings gibt es je nach Kulturkreis ganz unterschiedliche Vorstellungen von Moral und Sitte.
Reinheit als kultureller Code kann tatsächlich von Gesellschaft zu Gesellschaft, von Gemeinschaft zu Gemeinschaft variieren. Das birgt Konfliktpotenzial. Denn in dem Moment, in dem ich mich selbst für rein erkläre, taxiere ich den anderen als unrein. Ich markiere Differenz zu ihm. Mit Reinheit grenze ich aus.
Mit welchen Folgen?
Das kann so weit gehen, dass mit Reinheitsdiskursen bestimmte Gruppen sozial stigmatisiert, marginalisiert oder gar ausgelöscht werden. Die Gegner dieser Gruppen stellen sie als unrein dar, deklassieren sie etwa als Insekt, und meinen, durch rhetorische Entmenschlichung Gewalt legitimieren zu können. Reinheit und Unreinheit schliessen sich eben gegenseitig aus.
Reinheit wird hier also missbraucht zur Rechtfertigung von Gräueltaten?
Ja, ich glaube gar, dass sich fast alle Konflikte, die uns gegenwärtig umtreiben, ein Stück weit auf solche Vorstellungen von ethischer Reinheit zurückführen lassen. Und früher war es nicht anders. Ich behaupte, dass sich bei der Wende zum 16. Jahrhundert hin – nicht zuletzt befördert durch die Reformation – Vorstellungen herausgebildet haben, die sehr stark auf dem Prinzip der ethischen Reinheit beruhen.
Reinheit kennen wir ja aus dem religiösen Kontext. Denken wir nur an die Erbsünde im Christentum.
Martin Luther als Exponent der Reformation war sich bewusst, dass wir Menschen wegen dieses Sündenfalls unrein sind – und es bleiben. Er erachtete es jedoch als Pflicht, mit einem frommen Leben auf dem Weg zur Reinheit so weit voranzuschreiten wie möglich, freilich ohne je ganz anzukommen.
Sittlichkeit und Moral scheinen mir häufig religiös vermittelt zu werden.
Das ist richtig. Es gibt aber auch andere Formen von Reinheit, die eng damit verbunden sind: zum Beispiel bei der Frage, von wem wir abstammen. Diese Frage ist eng an Konzepte kultureller Reinheit geknüpft.
Ein solcher Abstammungsdiskurs erinnert mich an die Metapher des «reinen Bluts»…
Dieses Sprachbild spielt historisch eine grosse Rolle. Der vielleicht erste Fall, in dem sich diese Vorstellung der Blutsreinheit beobachten lässt, ereignete sich beim zwangsweisen Übertritt von Juden zum Christentum im 14. und 15. Jahrhundert.
Man warf den Konvertierten auf der Iberischen Halbinsel vor, es nicht ernst zu meinen und unter dem Deckmantel des Christentums Juden oder, später, Muslime zu bleiben. Deshalb wollte man Eindeutigkeit schaffen – und tat dies über die Vorstellung des reinen Bluts. Man sagte also, «ihr könnt konvertieren und euch taufen lassen, aber das macht euch noch lange nicht zu Christen».
Da manifestiert sich die bis heute immer wieder auftauchende Angst vor der Vermischung der Gesellschaft. Extremisten sprechen hierbei gar von «Verunreinigung» .
Aus diesem Grund plädiere ich dafür, dass man immer dann, wenn Reinheit als Vorstellung und Metapher auftaucht, hellhörig werden und genau hinschauen muss.