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Nicholas Felton bei einer Präsentation vor lauter Grafiken und Diagrammen.
Legende: Einer der Väter der Quantified-Self-Bewegung: Nicholas Felton. Flickr/poptech

Gesellschaft & Religion Die Vermessung des Selbst

Selbsterkenntnis durch Zahlen – das wollen die Mitglieder der Quantified-Self-Bewegung erreichen. Dies, indem sie ihr Leben in Daten zerlegen und mit anderen vergleichen. Nicholas Felton geht einen Schritt weiter: Die Datensammlung über seinen verstorbenen Vater liess diesen neu auferstehen.

Es wirkt wie der Wunschtraum aller Datendiebe von Krankenkassen bis zur NSA: Die Menschen sammeln selbst ihre Daten, messen ihre Schritte und Herzfrequenzen, Kalorienverbrauch- und zufuhr, erstellen Bewegungsprofile, die zeigen, wann sie wo gewesen sind und mit wem sie wie lange gesprochen haben. Das alles und noch viel mehr stellen die «Selbstvermesser» dann auch noch ins Internet, hübsch aufbereitet in schicken kleinen Grafiken. «Quantified Self» heisst dieser Internet-Exhibitionismus und kommt – wir ahnen es schon – aus den USA.

Nenne mir Deine Zahlen und ich sage Dir, wer Du bist

Schrittzähler, Herzfrequenzmesser und Apps wie «Lose it!» oder «Nike+» – das schreit förmlich nach Fitness- und Gesundheitsportalen, wo sich die Selbstvermesser treffen und miteinander vergleichen: Man sucht sich jemanden gleichen Geschlechts, im selben Alter und mit ähnlichen Körpermassen und Lebensumständen - und schon geht sie los, die Leistungsschau des eigenen Lebens. Die Top 10 der grossen Portale avancieren dort bereits zu regelrechten Stars. Wenn man eine Gesellschaft daran erkennt, wen sie zu Stars erhebt, dann ist diese eine reichlich narzisstische.

Die «Annual Reports»

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Würde man das Etikett «narzisstisch» auch auf die Reporte von Nicholas Felton kleben, so würde diese Beschreibung zu kurz greifen. Der Grafik-Designer ist einer der Väter dieser Bewegung. Nicholas Felton war Designer bei Facebook und veröffentlichte schon 2005 seinen ersten Report im Internet und von da an jedes Jahr einen neuen – unter dem Kunstwort «Feltron», das sich zusammensetzt aus seinem Nachnamen Felton und dem «r» für Report.

Schick sehen sie schon aus, die vielen kleinen Grafiken, Diagramme, Skalen und Schemata. Aber was steht drin? Ein schmaler Auszug aus seiner Jahresbilanz 2012: Nicholas Felton besuchte 496 verschiedene Orte. Er ass in 103 Restaurants, am häufigsten im Fuki Sushi im kalifornischen Palo Alto. Er notierte Gespräche mit 488 Menschen. Besonders oft redete er mit einer gewissen Olga. Seine tägliche Produktivitätsrate lag bei 49,3 Prozent, am meisten schaffte er mittwochs.

Eine andere Form des Erzählens

Auszug aus «The 2012 Feltron Annual Report».
Legende: Auszug aus «The 2012 Feltron Annual Report». Nicholas Felton

Wie erzähle ich das Leben eines Menschen? Sollte ich seine Familie, seine Freunde befragen oder lieber seine Daten? Angehörige und Freunde werden das von ihm erzählen, was ihnen aus ihrer Sicht wichtig erscheint. Das kann berührend sein, ist aber immer subjektiv. Die Daten dagegen erzählen vom rein Faktischen. Diese Erzählung ist objektiv und stellt völlig emotionsfrei Wichtiges neben Unwichtiges. Das fällt einem als erstes auf an den «Feltron Reports»; das Nebeneinander von Wichtigem und Unwichtigem, Regelmässigem und den kleinen Abweichungen von der Regel. Denn auch das nachträgliche Glätten von Unregelmässigkeiten, das wir aus menschlichen Erzählungen kennen, fehlt hier.

Quantität wird zu Qualität

Doch das reine Nebeneinanderstellen von Daten ist ja noch keine Erzählung, oder? Nein, aber sie kann es werden. Das ist die Grundannahme der «Big Data»-Theoretiker: Je grösser die Datenmenge, desto grösser die Wahrscheinlichkeit, dass Quantität in Qualität umschlägt. Das ist der Moment, wo sich im Betrachter hinter all den Daten im Feltron-Report ganz allmählich das Bild eines Menschen abzeichnet.

Dieser Effekt basiert auf einer Grundkonstante menschlicher Wahrnehmung: So wie die meisten Menschen in der Frontansicht eines Autos ein menschliches Gesicht erkennen, mit den zwei Scheinwerfern als Augen und dem Kühlergrill als Mund – genauso formen die Daten im Betrachter allmählich das Bild des Menschen dahinter. Und dieses Bild in unserem Kopf laden wir mit Emotionen auf, genauso wie wir einen BMW als sportlich-aggressiv beschreiben und einen Mercedes als solide und seriös.

Der Vater in Fakten

Am eindrücklichsten ist das im 2010 veröffentlichten «Paternal Report» zu sehen. Am 12. September 2010 starb Nicholas‘ Vater Gordon Felton. Aus seinem Nachlass nahm Nicholas alles, was sich irgendwie zu Daten formen liess: Postkarten verrieten, wo er wann gewesen war, Pässe sagten, wann sein Vater in welche Länder reiste und wie lange er dort blieb, Kalender erzählen von seinen Tagesabläufen. Eine Datenflut, ganz ähnlich wie in Nicholas Feltons eigenen Reports: Von 1933–39 lebte sein Vater in Berlin unter den Nazis, geboren als Günter Fajgenbaum. 1962 ging er von Manaus aus in den Dschungel des Amazonas. In den 70er Jahren trug er sechs Monate lang einen Bart. 1977 wurde sein Sohn Nicholas geboren. Von 1984–1990 verbrachter er 268 Tage an seinem Arbeitsplatz, 35 davon nutzte er zur Jobsuche. 1988 war er 870 Seemeilen lang auf dem Deck eines Segelbootes von Victoria nach Sausalito. 12 Sportarten liebte Gordon Felton, darunter Tai-Chi, Tanzen, Sportfischen und Segeln. – Und was sagt uns das?

Wie «Malen nach Zahlen»

Auszug aus dem «2010/2011 Feltron Biennial Report»
Legende: Auszug aus dem «2010/2011 Feltron Biennial Report» Nicholas Felton

So wie Nicholas Felton einen anderen Vater entdeckte, so entsteht auch beim unbeteiligten Betrachter allmählich ein Mensch hinter den Daten – komischerweise aus den Nebensächlichkeiten: Etwa, dass Gordon Felton aus erst einmal völlig unerfindlichen Gründen sechs Monate in seinem 81 Jahre währenden Leben einen Bart trägt. War ihm dieser zu schütter? Schliesslich war er auch Segler und Sportfischer, ein He-Man, wie Ernest Hemingway. Vielleicht war aber eine andere Seite in ihm einfach stärker; vielleicht war es der Gordon Felton, der gern tanzte und Tai-Chi liebte, dem der eigene Bart irgendwann als unpassend erschien? Wer weiss?

Sie müssen das lesen und Ihr eigenes Bild aus Gordon Feltons Daten formen! Es ist so einfach wie «Malen nach Zahlen», wobei das Bild allein im Kopf des Betrachters entsteht.

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