Bürgerkrieg, Mittelmeer und Schneeberge, die leckeren Mezze-Vorspeisen und ein vielfältiges Frauenbild zwischen Botox-Lippen und Schleier: Das waren die Bilder, mit denen im Gepäck ich im Sommer 2012 in meinen unbezahlten Urlaub nach Beirut aufbrach. Bauernhöfe gehörten nicht in dieses Bild. Dennoch zählt der Monat, den ich auf einem Bergbauernhof auf 1700 Metern über Meer verbrachte, zu meinen eindrücklichsten Libanon-Erlebnissen.
Sprachkurs gegen Feldarbeit
Als ich nach zwei Monaten Hocharabisch-Unterricht an der American University Beirut immer noch kein richtiges Gespräch führen konnte und meine neuen Bekannten in der Hauptstadt schnell auf Englisch oder Französisch switchten, wenn ich mit meinen Fragen über libanesische Geschichte kam, wusste ich: Wenn ich wirklich sprechen und verstehen lernen will, muss ich unter Leute gehen, die ausschliesslich Arabisch können.
Ich erinnerte mich an den Landdienst, den ich mit 16 in einem Walliser Bergbauernhof verbracht hatte – und fand schliesslich einen Biogemüsehof auf 1700 Metern über Meer in den nordlibanesischen Bergen. Die Besitzer, eine Marketingfachfrau und ein Zahnarzt aus Beirut, fanden meine Idee originell. Noch nie hatten sie eine ähnliche Anfrage gehabt: Im Libanon gilt Feldarbeit als niedrig, die Einheimischen verdingen sich lieber in einem Callcenter oder als Pizzakurier anstatt auf einem Bauernhof zu arbeiten. Dass eine Akademikerin aus Europa freiwillig einen Monat auf dem Feld mithelfen will, belustigte sie zunächst. Selber verbringen sie jeweils nur die Wochenenden auf ihrem Hof in den Bergen, um sich zu erholen.
Libanesische Spezialitäten auf dem Biobauernhof
Auch die beiden Landarbeiter, der Syrer Ziad und der Ägypter Aymad, sowie die äthiopische Hausangestellte Tru, staunten nicht schlecht, als ich eines Sonntagabends vor ihnen stand. Sie wussten nicht recht, verrieten mir Ziad und Aymad später, ob dieses zarte Persönchen mit den kurzen Haaren ein Junge oder ein Mädchen war. Zunächst wollten sie mich nicht aufs Feld lassen, höchstens ein bisschen in der Küche helfen sollte ich.
Doch ich setzte mich durch, schliesslich wollte ich kein Hotelgast sein. Mit Aymad und Ziad lernte ich Bohnen und Tomaten zu ernten. Tru zeigte mir, wie man unreifen Traubensaft zur essigähnlichen Spezialität Hosrom einkocht und wie aus süsser Zwetschgenkonfitüre, auf Plastikplanen zu dünnen Blättern ausgestrichen und tagelang an der Sonne getrocknet, ein wunderbarer Proviant für Wanderungen wird.
Mit auf dem Hof wohnten auch Nabiha und Marie, die beiden über 80-jährigen Schwestern des Hausbesitzers. Die ledige, kinderlose Nabiha und Marie, die zwei erwachsene Söhne hat, adoptierten mich bald als Schwiegertochter. Mit Nabiha rauchte ich unter dem libanesischen Sternenhimmel meine erste Zigarette. Und Marie erzählte mir ihre Erinnerungen aus dem Bürgerkrieg.
Feature über einen multikulturellen Mikrokosmos
Krieg und Vertreibung, Migration und Exil, die Heimat und die Liebsten verlassen müssen, ungewiss, wann man sie wiedersieht: Diese Erfahrung durchzieht die Lebensgeschichten aller Bauernhofbewohner, auch wenn sie aus so unterschiedlichen Ländern wie Äthiopien, Ägypten, Syrien und dem Libanon kommen. Sie alle sind zwischen 30 und 85 Jahre alt.
Die Geschichten von Tru, Aymad, Ziad, Marie und Nabiha fand ich so spannend, dass ich bald mein Mikrofon mitlaufen liess und daraus nach meiner Rückkehr ein Radiofeature gestaltete. Die Hausangestellte Tru sagte einmal angesichts des syrischen Bürgerkriegs wenige Dutzend Kilometer entfernt: «Heute naht das Ende der Welt. Nirgendwo herrscht Friede. Oder geht es euch etwa gut, in deinem Land?» Verdattert musste ich sagen: Ja. In der Schweiz geht es uns gut. Unglaublich gut sogar.