Am Weihnachtstag 1857 wartete die Wiener Presse mit einer sensationellen Neuigkeit auf: Kaiser Franz Joseph hatte beschlossen, die Wiener Stadtmauern schleifen zu lassen und an ihrer Stelle einen neuen, imposanten Boulevard anzulegen: die Ringstrasse. In den nächsten Jahren und Jahrzehnten entstanden die berühmten Monumentalgebäude, die das Antlitz Wiens bis heute prägen: Staatsoper, Burgtheater und Parlament, Rathaus, Börse, Universität und Kunsthistorisches Museum.
5,2 Kilometer Freilichtmuseum
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Die Wiener Ringstrasse ist ein 5,2 Kilometer langes Freiluftmuseum. Die Kulturtempel der österreichischen Hauptstadt sind hier aufgefädelt wie die Perlen an einer Kette. Das Problem dabei: Kaum eine der Perlen ist echt – die meisten Imitationen: Das neugotische Rathaus zum Beispiel, eines der grössten der Welt, wurde von Architekt Friedrich Schmidt dem berühmten Brüsseler Rathaus nachempfunden. Die Verwaltungs-Trutzburg an der Wiener Ringstrasse, 1883 eröffnet, sollte den urbanen Bürgerstolz des europäischen Spätmittelalters symbolisieren – aus diesem Grund wählte Baumeister Schmidt die Gotik als Referenzstil und verprasste bei dieser Gelegenheit das ganzes Jahresbudget der Stadt Wien.
Auch wenn das Rathaus ein schmuckes Gebäude ist: Es bleibt dennoch ein Stil-Imitat. Genauso wie das Burgtheater (Neobarock), das Kunsthistorische Museum (Neorenaissance) oder die Staatsoper (Romantischer Historismus). Die monumentalen Bauten wiederspiegeln den unbeirrbaren Willen ihrer Erbauer, sich auf dem Höhepunkt der Industriellen Revolution von den Errungenschaften anderer, ästhetisch ruhmreicherer Zeiten zu nähren.
Bluff oder eine Art zweite Renaissance?
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Und das ist die Krux des Historismus, wie vor allem Vertreter der funktionalistischen Moderne im 20. Jahrhundert immer wieder kritisiert haben: Er ist der repräsentative Stil einer Epoche, die selbst keine originären Gestaltungsideen hervorgebracht hat. «Stillosigkeit als Stil», so brachte es Meisterspötter Egon Friedell 1931 auf den Punkt. Und Robert Musil, auf seine Art ein radikaler Modernist, kritisierte die grossen Ringstrassenbauten als «Theaterdekorationen einer gehaltlosen Zeit».
Da ist was dran, bis heute. Die Ringstrasse, behaupten böse Zungen, sei eine grosse städteplanerische Show, ein Disneyland der historistischen Architektur: schön anzuschauen, aber in gewisser Weise eben – Bluff.
Matthias Boeckl, Professor an der Universität für Angewandte Kunst in Wien, hält dagegen: «Wir müssen uns davor hüten, diese Ära mit den Kriterien der Moderne zu beurteilen. Adjektive wie ‹rückständig› oder ‹konservativ› sind da wirklich nicht angebracht.» Zu ihrer Entstehungszeit, so Boeckl, sei die Ringstrasse das Modernste vom Modernen gewesen, schliesslich sei die Ära des Historismus von einer kritischen Rückbesinnung auf die Werte der Vergangenheit geprägt gewesen – eine Art zweite Renaissance.
Wiederaufwertung des Historismus
Faktum bleibt jedoch: Das ganze 20. Jahrhundert hindurch, bis zum Beginn der Postmoderne, hatte der Historismus eine denkbar schlechte Presse. Die üppig ornamentierten Prunkgebäude der «Belle Epoque» waren das Feindbild der funktionalistischen Moderne.
Heute, zum 150. Geburtstag der Ringstrasse, ortet man nicht nur in Österreich eine neue Wertschätzung für den einst so verpönten Historismus. Bauten wie das Wiener Burgtheater oder die Pariser Oper, aber auch der Reichstag zu Berlin oder das Bundeshaus in Bern lassen sich als ästhetisches Interface zwischen Alt und Neu interpretieren, als stilgeschichtliches Bindeglied zwischen Klassizismus und Moderne.
Den Städtetouristen aus Peking, Houston und São Paulo, die Tag für Tag das Rathaus auf der Ringstrasse bestaunen, sind derlei Feinheiten ohnehin einerlei. Hauptsache prachtvoll, Hauptsache monumental. Ob die schmucken Giebelchen und Türmchen des Wiener Kommunalpalasts aus dem 15. oder dem späten 19. Jahrhundert stammen – ganz ehrlich: Wen kümmert’s?
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 29.4.2015, 17.06 Uhr.