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Ein Mann hält einen Bildschirm in den Händen und sein verschwommenes Gesicht scheint von diesem eingesogen zu werden.
Legende: Mensch und Rechner verschwimmen immer mehr - Experten rufen zum Umdenken auf. Colourbox

Gesellschaft & Religion E-Mails machen dumm und krank

Ein Mensch verbringt bis zu seinem 75. Geburtstag durchschnittlich 8 Monate seiner Lebenszeit nur mit dem Löschen unerwünschter Mails. Und gerade mal 14 Tage mit Küssen. Digital-Therapeutin Anitra Eggler fordert: Wir müssen den E-Mail-Wahnsinn stoppen!

Alle elf Minuten wird ein Kopfarbeiter im Schnitt von seiner Arbeit abgelenkt. Störfaktor Nummer eins: E-Mails. Konzentrationstechnisch ist dieser Arbeitszustand suboptimal. Mit jeder Ablenkung geht viel Aufmerksamkeit verloren, die mühsam wieder aufgebaut werden muss, bevor sie durch die nächste Ablenkung wieder zerstört wird.

Dieser sogenannte «Sägeblatt-Effekt» kostet den Arbeitenden viel Kraft und verschleisst Produktivität. «Stellen sie sich einen Marathonläufer vor, dem alle elf Minuten die Schnürsenkel aufgehen», meint Digital-Therapeutin Anitra Eggler, «der kommt natürlich auch ans Ziel. Die Frage ist nur mit welchem Krafteinsatz und in welcher Zeit.»

Jede Mail führt zu einer neuen

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Einst waren E-Mails der digitale Segen, heute bedeuten sie Stress: Wir senden und empfangen elektronische Post zu jeder Tages-, Nacht-, Wochenend- und Urlaubszeit. Wir rufen sie ab und antworten, ständig. Manisch. Und jede Mail führt wieder zu neuen Mails. «Das macht nicht glücklich, das hemmt den Arbeitsspass und die Motivation», proklamiert Eggler.

Ständige Erreichbarkeit und Multitasking machen die Menschen krank und sind falsche Karrieregötzen. «E-Mails abrufen nach Feierabend oder am Wochenende soll künftig als Zeichen schlechten Zeitmanagements gelten und nicht als vorbildlich» fordert die Verfechterin des E-Mail-Urlaubs.

Nur Sklaven sind ständig erreichbar

Die E-Mail-bedingte Unproduktivität kostet die Weltwirtschaft jährlich Milliarden. Kopfarbeiter verbringen heute ihren Tag in der Mailbox. Sie lassen sich von eingehenden E-Mails sagen, was sie als nächstes tun sollen und nicht von ihrer eigenen Priorisierung.

Während noch vor wenigen Jahren der E-Mail-Umsatz ein Erfolgsmesser war, dreht sich der Spiess heute allmählich um. Für Eggler ein sehr begrüssenswerter Trend: «Ich hab früher auch gedacht, ich maile also bin ich - erfolgreich und unersetzbar. Heute sage ich eher: Ich maile, also bin ich - Sklave. Denn nur Sklaven sind dauernd erreichbar.»

Therapeutin für Sinnlos-Surf-Syndrom

Portrait der Autorin.
Legende: Anitra Eggler ist Digital-Therapeutin - und hat den Begriff selbst geprägt. ZVG, Lukas Dostal

Trotz allem Übel: Anitra Eggler ist keine Internet-Pessimistin. Im Gegenteil: Sie war selber 15 Jahre an vorderster Front in der Internetbranche tätig, hat 4 Lebensjahre davon vermailt und versurft - bis zum Tag X.

Die umtriebige und sehr beredte Autorin hat sich nach «einer Läuterung» zum Ziel gemacht, ihre Erfahrungen weiterzugeben. Arbeitnehmer aber auch Arbeitgeber aufzuzeigen  wie sie die eigene Produktivität wieder steigern und mehr Lebenszeit gewinnen können. Heute versteht sie sich als skeptische Internet-Enthusiastin.

Kommunikationsrituale ändern

Anitra Eggler therapiert Internet-Krankheiten wie den E-Mail-Wahnsinn, das Sinnlos-Surf-Syndrom, oder Facebook-Inkontinenz und ist Botschafterin einer neuen digitalen Kommunikationskultur: «Ich kann den Menschen Impulse geben, ich kann ihnen den Spiegel vorhalten, ich kann ihnen von mir erzählen, wie ich früher war. Und ich kann das weitergeben, was ich beim mir geändert habe. Aber eine Änderung der Kommunikationsrituale muss jeder für sich selbst vollziehen. Jeder braucht einen anderen Mix. Und jeder braucht seinen gesunden Menschenverstand.»

Umdenken: Mail-Verbot nach Feierabend

Buchhinweis

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  • Anitra Eggler: «E-Mail macht dumm, krank und arm. Digital-Therapie für mehr Lebenszeit», Orell Füssli Verlag, 2012.
  • Anitra Eggler: «Facebook macht blöd, blind und erfolglos. Digital Therapie für ihr Internet-Ich», Orell Füssli Verlag, 2013.

Mit ihren knackigen, fast schon schrill schreienden Thesen kitzelt die Autorin am Nerv der Zeit. Und hat damit Erfolg. Auch Grosskonzerne holen bei ihr Rat. «Bei grossen Unternehmen ist der Leidensdruck gross», sagt Eggler, «weil sie merken, bei 100 Mitarbeitern lässt man etwa 1,25 Millionen Euro an Produktivität liegen durch die Überkommunikation,  die Sinnloskommunikation und Ablenkung und auch die Krankheitsfolgen, die durch E-Mails entsteht.»

VW zum Beispiel schaltet seinen Mitarbeitern mit Firmen-Smartphones nach Dienstschluss den E-Mail Eingang ab. Diese Zwangsabschaltung soll Arbeitnehmer vor der Selbstausbeutung schützen und sie langfristig gesund halten und somit auch produktiver machen.

Immer mehr wird in der Arbeitswelt die deutlichere Trennung von Arbeit und Freizeit verfolgt. Die Unternehmen investieren Geld in die Gesundheit ihrer Mitarbeiter. Eine Investition die sich lohnt: Gesunde Arbeitnehmer sind leistungsfähiger. Depressionen und Burnouts verursachen sehr hohe Kosten.

Anitra Eggler plädiert für ein Umdenken. «Wenn ich mir heute die Stellenausschreibungen ansehe, und da wird immer noch die eierlegende Wollmilchsau gesucht, die Krake, die alles gleichzeitig macht, dann versteh ich das nicht.»

Nicht alles, sondern etwas richtig machen

Die Entwicklung der digitalen Kommunikation steht erst am Anfang. Die Welt wird noch vernetzter und diese Sofort-Kommunikation noch gravierender in das Arbeitsleben eindringen. Um dieser Entwicklung nicht schutzlos ausgeliefert zu sein, ist ein Gegentrend von Nöten. «Wir müssen wieder lernen, wie schön es ist, nicht immer erreichbar und vernetzt zu sein. Der Kopf muss manchmal auch defragmentiert werden. Wer ständig alles gleichzeitig macht, macht nichts mehr richtig.»

Eggler bringt es auf den Punkt: «Wir leiden an einer »Zuvielisation«. Wir sind überkommuniziert, aber am Ende eines Tages fühlen wir uns doch irgendwie uninformiert. Wir müssen wieder zurückgehen zu sagen: die Schnecke kann dir mehr über den Weg erzählen als der Hase.»

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