Was soll ich bloss anziehen? Langes Hemd oder Kapuzenpulli? Spreche ich die Mönche mit Vornamen an? Muss ich bei den Gebeten mitsingen? Und gibt es WLAN? Mit lauter Fragen und einem mulmigen Gefühl steige ich morgens um halb neun in Zürich in den Zug. Ich fahre ins Kloster, nach Disentis – über Chur und Ilanz, mit der Rhätischen Bahn dem milchigen Vorderrhein entlang, durch karge Täler und erhabene Berglandschaften.
Mönche habe ich mir anders vorgestellt
Für die Schönheit der Natur bleibt jedoch kaum Zeit, schliesslich sollte ich die paar ausgedruckten Artikel über die Benediktiner und das Kloster Disentis reinpauken. Da steht etwas über Benedikt von Nursia, über die Klostergründer Sigisbert und Placidus, über Ortsgebundenheit, Gehorsam, Schweigsamkeit und Demut – und etwas von fünf Gebeten pro Tag. Das sollte ich schaffen.
Um halb zwölf komme ich in Disentis an. Die Sonne brennt. Ich steige hinauf zum Kloster, vorbei an der Baustelle – anlässlich des Jubiläums wird im und um das Kloster einiges neu gemacht. An der Pforte wartet bereits Bruder Martin Hieronymi auf mich. Jung, gutaussehend, sympathisch und lebensfroh. Mönche habe ich mir anders vorgestellt. Wir duzen uns.
In einer anderen Welt
Er zeigt mir mein geräumiges Gästezimmer, dann geht’s zum Mittagsgebet in die Klosterkirche. Die knapp zwanzig Mönche singen einstimmig Psalmen, die ich natürlich nicht kenne. Ein und derselbe Ton wird immer wiederholt, mit kleinen Schlenkern nach oben und unten. Die Orgel klingt wunderschön weich – meine Gedanken schweifen ab.
Nach dem Gebet trotte ich den schwarzen Gewändern hinterher in Richtung Speisesaal. Feste Sitzordnung, in Form eines Hufeisens. Die Suppenschüssel wird herumgereicht. Keiner sagt ein Wort, bis auf den Vorleser, der gerade aus dem Alten Testament liest, und zwar aus dem Buch «Leviticus»: eine unsäglich langweilige Aneinanderreihung fremder Namen, irgendwelche Nachkommen von weiss nicht wem. Spätestens jetzt merke ich: Ich bin in einer anderen Welt angekommen.
Nach der Bibel die Geschichte des Bergsteigens
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Nach gefühlten fünfzig Namen legt er die Bibel beiseite und schlägt ein neues Buch auf. Zum Glück, denke ich, und schlürfe weiter meine Suppe. Doch was kommt jetzt? Fakten über Bergsteiger. Ich glaube, ich bin im falschen Film. Kurz nachdem ich erfahren habe, wer die Söhne Aarons waren, höre ich nun, dass Lucy Walker 1871 als erste Frau das Matterhorn bestieg – und zwar in Flanellunterhosen, da ihr Kleid zu warm und fürs Bergsteigen äusserst unpraktisch war. Ein Schmunzeln geht durch die Runde. Danach wird aus der Regel des heiligen Benedikts gelesen – auch das nicht gerade ein Thriller.
Nach dem Essen erklärt mir Bruder Martin, dass bei der Tischlesung derzeit ein Buch über die Geschichte des Wanderns und Bergsteigens in den Alpen gelesen wird, Häppchen für Häppchen, Tag für Tag. Der Vorleser fährt jeweils da weiter, wo er am Tag davor aufgehört hat. Beim Abendessen wird neben dem neuen Testament gerade eine Biographie von Papst Johannes Paul II. vorgelesen, gefolgt von den Namen der Heiligen und der verstorbenen Klosterbrüder des morgigen Tages. Das Ganze kommt mir äusserst seltsam vor, wie Radiohören, nur dass man nicht abschalten kann und der Sender alle paar Minuten wechselt – und der Sprecher aufgrund seines monotonen Lesestils niemals die Sprecherlaubnis bekäme.
Der Reiz des Klosterlebens
Nach dem Essen werden mir die Räumlichkeiten und die Umgebung gezeigt: Das hochmoderne Gymnasium mit Internat, einem kleinem Kinosaal und digitaler Wandtafel, die Wäscherei und die Schreinerei, ebenso wie das vom Bündner Architekten Gion Caminada kunstvoll entworfene Mädcheninternat nebenan. Um halb vier trifft sich, wer möchte, zu Kaffee und Brot. Bruder Luzi Cavegn, der Älteste im Bunde, ist zu Spässen aufgelegt und unterhält die Runde. Anschliessend spreche ich mit zwei Brüdern über das Glück und den Verzicht des Klosterlebens.
Nach dem andächtigen Abendgebet kehre ich in mein Zimmer zurück – und spüre endlich, was den Reiz dieser Lebensform ausmacht: Ruhe, Zeit für sich und klare äussere Strukturen, die es dem Geist erlauben, sich zu sammeln; aber auch Gemeinschaftlichkeit, gegenseitige Hilfe, intensive Gespräche und sinnvolle Arbeit. Und über all dem steht die Liebe zu Gott – das Lob des Herrn. Mein Kopf und mein Herz stossen hier leider an ihre Grenzen. Doch, wer weiss: Vielleicht ist auch das nur eine Übungssache, wie das Aufstehen morgens um fünf.