«Als ich in der Türe des Wartezimmers stehe und zum ersten Mal sage: ‹Frau K. bitte›, da springt eine auf, steht klein und gross zugleich vor mir und streckt mit ihre Rechte exakt so hin, dass bei der Begrüssung der grösstmögliche Abstand gewahrt bleibt. Ein schroffer Arm, ohne die kleinste Freundlichkeitsbeuge...» So beginnt eine der zwölf Geschichten im aufsehenerregenden Buch der Zürcher Psychotherapeutin und Psychoonkolgin Sabine Lenz.
Bei soviel Schroffheit im Erstkontakt ist Professionalität gefragt. Dazu gehört für die Fachfrau, dass sie sich ihrer eigenen Reaktion bewusst ist und registriert, wie das Gegenüber sich präsentiert und welche Geschichte es damit zu erzählen beginnt. Der erste Kontakt ist dafür von grosser Wichtigkeit.
«Die Fähigkeit zu sterben. Meine psychologische Arbeit mit Krebskranken» heisst das Buch von Sabine Lenz. Ein düsterer Titel. Immerhin hat die Onkologie in den letzten drei Jahrzehnten grosse Fortschritte gemacht. Die Hälfte aller Krebspatienten kann heute geheilt werden. Und wenn das nicht gelingt, dann leben viele von ihnen mit Krebs als chronischer Krankheit, jahre- und oft auch jahrzehntelang. Trotzdem: Lenz legt eine Requiemsammlung vor. «Es wird eben nach wie vor auch an Krebs gestorben» sagt die Fachfrau, die dieser «Endlichkeit vor der Zeit» mit Geschichten beizukommen versucht.
Zwölf Geschichten, ein Sachbuch
Die Geschichte der an Darmkrebs erkrankten, schroffen und doch sehr liebenswerten Frau K. ist nur eine von zwölf Geschichten im psychoonkologischen Sachbuch. «Geschichten sind das Gegenteil von Analyse und Diskurs», schreibt die Autorin im Klappentext. «Dies hier ist das Wagnis, aus der Psychoonkologie auf eine sehr persönliche Weise zu berichten. Mehr als irgendjemanden sonst werden die Texte vor allem mich selbst,sowohl bedecken wie entblössen.» Tatsächlich sind die zwölf Geschichten Lebensbilder intensivster weil existentieller Begegnungen. Sie wirken eindringlich und nachhaltig. Das liegt auch am sprachlichen Talent der Autorin.
Psychoonkologie – ein Angebot
Für die meisten Laien bedeutet Psychoonkologie seelische Hilfe für Krebskranke und ihre Angehörigen. Was unterscheidet diese Arbeit von Psychotherapie? Sabine Lenz sieht den Hauptunterschied darin, dass es bei der Psychoonkologie um eine körperliche Krankheit geht. Es geht deshalb um reale Ängste, deren Ursache nicht zu beheben ist.
Die Fachfrau ist mit vielerlei Erwartungen konfrontiert. Sie hat Zeit, komplexe Krankheitsgeschichten anzuhören. Sie verhilft den Diagnosegeschockten zur eigenen Sprache über die Krankheit. Sie kann anleiten zu einem seelenfreundlichen Umgang mit Tränen. Sie begleitet die Angehörigen durch das Gefühl von Angst und Ohnmacht. Eines kann sie nicht: sie kann nicht retten. Die psychologische Arbeit, so tiefgreifend sie auch sein mag, lässt die Zellwucherung nicht schmelzen.
Abtreten mit 50 statt Havanna-Rauchen mit 90
Sendungen zum Thema
Frau K. stirbt zwei Jahre nach der Diagnosestellung. Lenz schreibt: «Frau K. forderte mich auf, mich zu erklären, was meine spezifische Funktion sei angesichts der Tatsache, dass es keine Havanna mit 90 geben würde, sondern ein Abtreten mit 55. Ich hatte keine andere Wahl, als meine Karten offen auf den Tisch zu legen und ihr meine leeren Hände zu zeigen.»
Trotz dieser Kapitulation enden diese und die anderen elf Geschichten nicht einfach nur traurig. Sie zeigen nämlich alle, dass das Leben unabhängig von seiner Dauer auch in den allerengsten Passagen immer noch gestaltet werden kann.