10 Jahre ist Angela Merkel Bundeskanzlerin, 25 Jahre in der Bundespolitik. Nach all der Zeit glaubt man, sie zu kennen: als eine, die mit dem Zeitgeist segelt, als Physikerin der Macht, die das Machbare berechnet und nicht auf das Prinzip Hoffnung setzt; keine Idealistin, die gegen den Wind segelt. Doch in der Flüchtlingskrise hat sich der Wind gedreht: Es scheint, Merkel äussere sich emotionaler denn je.
Deutschland öffnete die Tore
Der 4. September 2015 gilt als der entscheidende Tag in der Kanzlerschaft von Angela Merkel. Damals beschloss sie zusammen mit dem österreichischen Bundeskanzler Werner Faymann, rund 10'000 Flüchtlinge aus Ungarn aufzunehmen. Ein Wochenende später kamen nochmals 20'000.
Ein Selfie eines Flüchtlings mit Angela Merkel ging um die Welt. Die Botschaft, die die Kanzlerin damit aussandte und die von der Schleppermafia sofort weiterverbreitet wurde: Deutschlands Tore sind offen. Obgleich Angela Merkel nie explizit gesagt hatte, Deutschland werde alle Flüchtlinge aufnehmen. War die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin unfreiwillig in diese Richtung abgedriftet? So ähnlich wie der DDR-Funktionär Günther Schabowski, der am 9. November 1989 unfreiwillig die Mauer zu Fall brachte?
Jetzt gibt sie den Takt an
«Nein», sagt Merkels innerparteilicher Gegner, CDU-Politiker Wolfang Bosbach. Merkel habe die Flüchtlinge aus Ungarn per Ausnahmeverordnung aufgenommen. Diese Verordnung sei noch immer in Kraft, die offenen Grenzen seien Absicht. Zwar äussere sich Angela Merkel emotionaler als früher. Nur wertet er das nicht als persönlichen, sondern als politischen Temperamentswechsel.
«Angela Merkel ist unprätentiös und bodenständig – das hat sie über all die Jahre beibehalten», sagt Bosbach. Um dann doch noch einzuräumen: «Aber es ist schon überraschend, zu sehen, wie sie in der Flüchtlingskrise eine ganz klare Position einnimmt und den Takt vorgibt, während sie bei anderen Themen heftig diskutiert und anfangs mit Entscheidungen zurückhält.»
Traditionen und Seilschaften sind trügerisch
Auch der frühere Pfarrer und DDR-Bürgerrechtler Rainer Eppelmann glaubt nicht, dass sich Angela Merkel grundsätzlich geändert hat. «Sie versuchte in der Funktion als Kanzlerin stets, sich selbst treu zu bleiben». Er betont, die Situation für Deutschland in Europa sei heute eine andere als noch vor zehn Jahren: «Es wäre fatal, wenn Merkel noch all die Sätze sagen würde, die sie im Jahr 2000 gesagt hat.» Er erinnert an das Lied des berühmten ostdeutschen Liedermachers Biermann «Nur wer sich ändert, bleibt sich treu» – das treffe auf Angela Merkel zu.
Wer wie sie aus der DDR stammt, hat die Erfahrung gemacht, dass Staaten und Systeme untergehen können. Merkel hält deshalb nicht so sehr an Traditionen und Seilschaften fest wie Politiker aus dem Westen. Denn sie weiss: Seile können reissen. Zwei Beispiele: 1999 brach Merkel mit Helmut Kohl wegen der sogenannten Schwarzgeldaffäre; 2011 beschloss sie von einem Tag auf den anderen den Ausstieg aus der Atomenergie – radikaler als jeder Westpolitiker.
Bei Merkel kommt hinzu: Sie war Physikerin. Sie hat als Wissenschaftlerin beobachtet und analysiert. Das macht sie auch heute noch: Ihr Forschungsfeld ist die Welt. So lässt sich ausgerechnet die Vergangenheit Merkels – sie selbst spricht selten darüber – als Erklärung für ihre Politik anführen.