Im Jahr 2002 in der zentralafrikanischen Stadt Bangui, an der Grenze zum Kongo: Kongolesische Söldner dringen in das Haus der damals 7jährigen Esther ein, ermorden ihren Vater und vergewaltigen alle weiblichen Mitglieder der Familie, auch ihre 8jährige Schwester. Der Kommandant der Truppen, Jean-Pierre Bemba, steht seit 2010 für das Morden und Vergewaltigen vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Aber was wird aus den Opfern? Was wird aus Esther, der Protagonistin des jüngsten halbstündigen Films von Heidi Specogna, der soeben den deutschen Menschenrechts-Filmpreis gewonnen hat?
Video zum Menschenrechts-Filmpreis
2007 wurde die Schweizer Dokumentarfilmerin mit ihrem Film «Das kurze Leben des Antonio Gutierrez» bekannt. Auf atemberaubende Weise erzählt Heidi Specogna vom Schicksal eines guatemaltekisches Strassenjungen, der illegal in die USA einwandert, zeitlebens für Anerkennung und Arbeit kämpft, und später - Ironie der Geschichte - als erster gefallener «amerikanischer» Soldat im Irak berühmt wird. Der Film «Das kurze Leben des Antonio Gutierrez» erhielt zahlreiche renommierte Preise, darunter den Schweizer Filmpreis und den Adolf-Grimme-Preis.
Eine Filmarbeit führt zur nächsten
Ihr nächster Film, «Carte Blanche» (2011), handelt von der Arbeit der Ermittler am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag und führte die Regisseurin auf die Schlachtfelder, welche die kongolesische Söldnertruppen 2002 in der Zentralafrikanischen Republik hinterlassen hatten. Bei dieser Arbeit hat die Filmemacherin die junge Frau Esther kennen gelernt.
Die fremde Welt der Geister
Bei den Dreharbeiten mit der heute 18-jährigen Esther stand Heidi Specogna vor einem Problem, wie sie im Interview mit 3Sat erzählt: «Am zweiten Drehtag überraschte uns Esther mit der Weigerung, vor ihr Haus zu treten. Sie erzählt im Film die Gründe dafür - ein böser Traum, in dem sie von einer Hexe bedroht wurde. Das Mädchen war wie paralysiert vor Angst. Wir hatten uns einen Film vorgestellt, der den Alltag eines Mädchens erzählt - durch die Stadt flanieren, Freundinnen treffen - stattdessen blieb nur eines: ihr in die fremde Welt der Geister zu folgen.»
Esther hat Albträumen mit Hexen und Dämonen, oft traut sie sich tagelang nicht auf die Strasse. In der Schule wird mit dem Finger auf sie gezeigt, deswegen mag sie nicht mehr hingehen. Doch sie arbeitet auf ein grosses Ziel hin: Sie will Französisch lernen, und zusammen mit der Schwester besucht sie Kurse der «Alliance Française».
Vergewaltigungen als Kriegsführung
Vergewaltigungen im Kontext von (Bürger-)Kriegen sind oft heimtückische strategische Elemente der Kriegsführung. Die gezielte Erniedrigung von Frauen und Kindern sollen dazu beitragen, die Moral des feindlichen Lagers zu zermürben. Zum Beispiel im Kongo.
Heidi Specognas Filme sind, bei aller Empathie für die Protagonisten, nie sentimental oder kitschig.
Die Geschichten spiegeln immer die grössere, gesellschaftliche Wirklichkeit. «Esther und die Geister» handelt von den langjährigen Konsequenzen der Übergriffe, mit denen Esther zu kämpfen hat: die Stigmatisierung in der Schule und im Quartier, die Angst vor Dämonen und Geistern. Und wie sie, allen Widrigkeiten zum Trotz, daran arbeitet ihre Träume zu realisieren. Esther, sagt Heidi Specogna, besuche heute noch immer den Französischunterricht, und ihre Chancen auf eine bezahlte Arbeit seien intakt.