Wien brodelt. Wo einst Beethoven und Mozart komponierten und Johann Strauss als Walzerkönig reüssierte, treffen sich am Wochenende Europas Schlagersternchen zum 60. Eurovision Song Contest (ESC).
Verantwortlich dafür, dass der Event erstmals seit 1967 wieder an der schönen blauen Donau stattfindet, ist der Travestie-Künstler Tom Neuwirth alias Conchita Wurst, der den Sieg beim grossen europäischen Schlagerwettstreit letztes Jahr zum ersten Mal nach 40 Jahren wieder nach Österreich geholt hat.
Brücke zwischen Heteros und Homosexuellen
«Building Bridges» lautet das Motto des ESC 2015, und damit sind ausdrücklich auch die Brücken zwischen Heteros und Homosexuellen gemeint. «Der Song Contest war von Anfang an eine besondere Liebe der schwulen Männer», sagt der Berliner Journalist und Kulturwissenschaftler Jan Feddersen, der mehrere Bücher über den Gesangsevent geschrieben hat: «Der ESC konnte von schwulen Männern kulturell – wenn man so will – erobert werden, weil er bei heterosexuellen Jungs und Männern schlecht beleumundet war.»
Beim Song Contest wird Musik gemacht, die zu keiner Zeit wirklich angesagt war, vor allem nicht bei der jeweiligen jungen Generation. Anfang der 90er-Jahre entdeckten die Mitglieder der Song-Contest-Fanclubs, die zu 95 Prozent aus Schwulen bestehen, dass sie mit ihrer Liebe geschmacklich gar nicht allein sind auf der Welt. Sie haben den ESC als eine Sache entdeckt, für die man sich nicht schämen muss.
Quirlige Lesben- und Schwulenszene in Wien
Wien als Austragungsort des Song Contests 2015 setzt – auch kraft der populären Queer-Ikone Conchita Wurst – dezidiert auf homosexuelle Fans. Die schwulen und lesbischen Ampelmännchen, kürzlich auf 49 Verkehrsampeln in ganz Wien angebracht, sind ein weltweit beachteter Marketing-Gag, mit dem sich die österreichische Hauptstadt im Umfeld des Song Contests als einer der vitalsten Hotspots der europäischen Schwulen- und Lesbenszene inszenieren möchte.
Städtetouristisch setzt man in Wien schon länger auf eine homosexuelle Klientel. Ende der 90er-Jahre begann der städtische Tourismusverband, schwule und lesbische Urlauber offensiv zu umwerben, denn die österreichische Hauptstadt hat gerade dieser Gästegruppe einiges zu bieten.
Neben einer quirligen Schwulen- und Lesbenszene mit vielen Clubs und Cafés sind da die alljährlich stattfindende Regenbogen-Parade oder der berühmte Life-Ball im Wiener Rathaus – ein schrill-glamouröser Charityevent zugunsten aidskranker Menschen, der Jahr für Jahr homo- und heteroxuelle Celebrities aus aller Welt anlockt: Sharon Stone und Naomi Campbell waren schon da, Liza Minelli, Elton John und zuletzt – in Vertretung Bill Clintons – auch Sean Penn.
Rausschmiss wegen Küsserei
Österreichs Hauptstadt ist allerdings noch ein gutes Stück davon entfernt, sich als Shangri-La gelebter Querness etabliert zu haben. Ressentiments und Animositäten gegen Homosexuelle gibt es auch in Wien nach wie vor.
Beiträge zum Thema
Erst kürzlich sorgte die Besitzerin des Cafés Prückel in der Wiener Innenstadt für Aufsehen: Die resolute Dame schmiss ein lesbisches Pärchen wegen allzu offensiven Kussverhaltens auf den kaffeehauseigenen Plüschbänken kurzerhand aus dem Lokal.
Ein Fehler, wie die Prückel-Chefin kurz darauf einsehen musste. Einige Tage nach dem homophoben Rauswurf versammelten sich tausende Demonstrierende zu einem «Kiss In» vor dem Café, um gegen die Diskriminierung Homosexueller zu demonstrieren. Der Image-Schaden für das Prückel war enorm: Die Kaffeehauspächterin musste sich zerknirscht bei den liebenden Lesben entschuldigen. Seither darf im Prückel wieder gleichgeschlechtlich geschmust werden.
Es gibt so etwas wie einen zivilgesellschaftlichen Fortschritt. Allerdings, das haben Wiens Schwule und Lesben erkannt: Manchmal muss dieser Fortschritt hart erknutscht werden.