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Schwarzweissbild: Eine grosse Familie vor einem Weihnachtsbaum am Esstisch
Legende: Nicht immer sind Familienweihnachten so idyllisch wie in der Idealvorstellung. Muss man trotzdem zusammen feiern? Flickr/The Royal Library, Denmark

Gesellschaft & Religion Gibt es die Pflicht zur Familienweihnacht?

Weihnachtszeit ist Familienzeit. Doch muss das eigentlich so sein? Oder darf man sich dem familiären Weihnachtsfest entziehen? Eine philosophische Spurensuche.

Familientraditionen haben es in sich. Die Frage, ob und wie sie weiterzuführen sind, erst recht. Um Fettnäpfchen mitsamt drohendem Familiendesaster zu entgehen, tauschen junge Erwachsene den Weihnachtsbaum zuweilen lieber gegen eine Palme und verbringen Heiligabend mit Freunden statt Familie am Sandstrand.

Generationenkonflikte im Hintergrund

Die Frage, ob man den Marschbefehl zum weihnächtlichen «Familienschlauch» negieren darf, gibt immer wieder zu heftigen Diskussionen Anlass. Wo die einen Undankbarkeit und mangelnden Respekt den Eltern gegenüber orten, beharren die anderen auf ihrem Recht, die Feiertage nach eigenem Gusto zu verbringen. Dabei nimmt sich die Debatte um Für und Wider des weihnächtlichen Familienzeremoniells geradezu harmlos aus gegenüber den Generationenkonflikten, die sich dahinter verbergen können.

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Den Blick auf die alternden Eltern thematisiert auch der Film « Vaters Garten » von Peter Liechti, den die Sternstunden am 26.12. um 11 Uhr zeigen, gefolgt von einem Gespräch mit Jenny Erpenbeck über Herkunft und Familie.

Denn während der elterliche Wunsch nach einer gemeinsamen Weihnachtsfeier vergleichsweise einfach erfüllt werden kann, stellen sich den Kindern mit zunehmendem Alter der Eltern weitaus anspruchsvollere Fragen, die auch in der Philosophie debattiert werden: Müssen sie sich um ihre betagten Eltern kümmern, auch wenn ihnen dieser Kontakt nichts mehr bedeutet? Sollten sich erwachsene Kinder beruflich oder finanziell einschränken, um ihre Eltern zu pflegen? Schulden erwachsene Kinder ihren Eltern etwas?

Zu Dankbarkeit verpflichtet?

Diese Fragen stellen sich notabene nicht für Kinder, die von ihren Eltern vernachlässigt oder misshandelt wurden. Dass boshafte Eltern jegliche Ansprüche auf Zuwendung ihrer Kinder verscherzen, ist unbestritten. Noch stellt sich die Frage nach der Schuld den Eltern gegenüber für den glücklichen Fall, in dem alle in Minne vereint das «Stille Nacht» anstimmen. Denn niemand wird nach einer Pflicht fragen, wo Liebe zur Fürsorge drängt.

Doch was, wenn die Eltern ihre erzieherischen Aufgaben zwar leidlich erfüllt haben, ihre Kinder aber dennoch auf Distanz gehen oder den Kontakt abbrechen? Dürfen Kinder das? Immerhin haben sich Eltern gewöhnlich nicht nur intensiv um ihren Nachwuchs gekümmert, sondern sich seinetwegen auch finanziell eingeschränkt, berufliche Pläne begraben, Hobbys aufgegeben.

Schulden erwachsene Kinder ihren Eltern nicht etwas im Gegenzug, wie schon Aristoteles behauptete? Gegen eine solche Forderung lässt sich einwenden, dass Kinder um all diese Güter nicht gebeten haben. Für gewöhnlich gehört es aber zum Konzept der Schuld, dass man sich wissentlich und freiwillig auf den Tauschhandel eingelassen hat.

Eltern und Kinder als Freunde

Allerdings bürden uns Beziehungen eine ganze Reihe von Verpflichtungen auf, zu denen wir nicht vorgängig ja gesagt haben. So ist es beispielsweise gerade der Witz der Freundschaft, dass wir einander bevorzugt behandeln, unsere Zuwendungen aber nicht gegeneinander aufrechnen. Freundschaft und Schulden vertragen sich schlecht. Allerdings lassen sich zumindest die Freunde selbst wählen – während man eine Familie einfach hat.

Diese Unwählbarkeit der Familienbeziehung macht die Analogie zur Freundschaft schwierig. Einige Philosophen haben deshalb vorgeschlagen, gerade die Unfreiwilligkeit der Familienbande als Wert umzudeuten. Familie ist sperrig, weil sie sich unserem Freiheitsdrang entzieht: Sie kann weder gewählt noch aufgekündigt werden. Selbst der Kontaktabbruch löscht die Familienbande nicht aus. Insofern ist Familie bedingungslos und besonders wertvoll.

Bedingungslose Liebe?

Die Frage ist bloss, was aus dieser Unfreiwilligkeit der Familienbeziehung folgt: Die einen behaupten, wir sollten uns ohne Murren in die Familienbande schicken und diese bedingungslose Beziehung bestmöglich gestalten, denn loswerden können wir sie ohnehin nicht. Diese Fraktion würde wohl dazu raten, sich stoisch an der Familienweihnacht einzufinden und sie im besten Fall sogar schätzen zu lernen.

Die anderen empfinden Familie als archaisches Konstrukt, als eine Beleidigung für ihren individuellen Lebensplan. Diese Fraktion empfiehlt den Ersatz der Familienbande durch Wahlverwandtschaft. Will heissen: Zu Weihnachten mit Palmenliebhabern an den Strand. Es sei denn, man ist mit seiner Familie ohnehin rundum glücklich, egal ob am Strand oder unter der Tanne. Das wäre vermutlich das einfachste.

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