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Leute verkaufen Kartoffeln von einem Lastwagen an Personen, die anstehen.
Legende: Mitarbeiter und Studenten der Universität Thessaloniki verkaufen Kartoffeln direkt an die Leute – ohne Mittelsmänner. Reuters

Gesellschaft & Religion Griechenland: Mehr Hilfe von nebenan

Suppenküchen, soziale Supermärkte und selbstorganisierte Kliniken: Immer mehr Freiwillige engagieren sich in Griechenland unbezahlt für Bedürftige im eigenen Land. Die Kultur der Solidarität wachse, doch der Boden sei steinig, sagt der griechische Politologe Iannis Konstantinidis.

Eine Bevölkerung, die in Not geraten ist, hilft sich selbst. Dies mag der Traum mancher Politiker sein angesichts von Problemen, die unlösbar scheinen. Davon gibt es in Griechenland viele: hohe Arbeitslosigkeit, wirtschaftliche Unproduktivität und ein reformbedürftiger Staatsapparat.

Es stimme, dass immer mehr Bürgerinnen und Bürger in der aktuellen Krise versuchen, das Heft selbst in die Hand zu nehmen, sagt der griechische Politologe Iannis Konstantinidis. So betreiben im Zentrum von Thessaloniki Ärztinnen, Zahnärzte und Apothekerinnen ein selbstverwaltetes medizinisches Ambulatorium. Sie arbeiten dort an ihren freien Tagen und am Abend als Freiwillige, ohne dass sie dafür bezahlt werden.

Den öffentlichen Raum zurückerobern

In dieser «Klinik der Solidarität» wurden in den letzten zwei Jahren 8000 Patientinnen und Patienten behandelt, die sonst nirgends mehr Hilfe bekommen hätten: Flüchtlinge, Obdachlose und auch immer mehr Griechinnen und Griechen, die mit ihrem Job auch ihre Krankenversicherung verloren haben. Dies ist mittlerweile bei einem Drittel der Bevölkerung der Fall. Ein Teil des griechischen Mittelstands ist nicht mehr in der Lage, eine medizinische Behandlung oder ein Medikament zu bezahlen.

Auch im kulturellen Leben der Stadt melden sich Bürgerinitiativen zu Wort. Etwa die Bewegung «Thessaloniki anders», der sich bisher 500 Freiwillige angeschlossen haben: Arbeitslose Architekten, Politologiestudentinnen, Journalisten und Musikerinnen versuchen, die Stadt wohnlicher zu gestalten. Sie tun dies mit autofreien Sonntagen, öffentlichen Hafenbegehungen, Waldspaziergängen und unentgeltlichen Open-Air-Konzerten. Dabei geht es immer auch um eine Rückeroberung des öffentlichen Raums. Und dies in einer Stadt, in der die politische Elite jahrzehntelang handfeste eigene Interessen durchgesetzt und dabei auch ihre Spuren hinterlassen hat.

Rettung des Tempels vor dem Abfall

Der römische Tempel der Venus war bis vor kurzem unter Abfall begraben – Kulturschützer wollen die Anlage retten.
Legende: Der römische Tempel der Venus war bis vor kurzem unter Abfall begraben – Kulturschützer wollen die Anlage retten. SRF/Sabine Bitter

Um die Stadt und nicht zuletzt ihr antikes Kulturgut vor diesem Zugriff zu schützen, hat sich beispielsweise die junge Designerin Nikol Stathatou mit dem pensionierten Stahlbauingenieur Giorgos Metaxas zusammengetan. Gemeinsam versuchen sie mit andern engagierten Kulturschützern den Tempel der Venus in Thessalonikis Innenstadt zu retten. Ein Teil dieser römischen Tempelanlage liegt unter einer Verkehrsinsel begraben, der andere Teil war bis vor Kurzem mit Abfall aus den umliegenden Wohnblocks zugeschüttet.

Solche kulturellen und sozialen Bürgerinitiativen seien in Griechenland ein neues Phänomen, sagt der Politologe Iannis Konstantinidis, zumindest Bewegungen, die unabhängig vom Staat und von den politischen Parteien existieren können. So betonen denn auch viele dieser Freiwilligenorganisationen, von der medizinischen Klinik bis zur Suppenküche, dass sie politisch unabhängig seien.

Bis vor Kurzem hätten die Parteien nämlich das soziale und kulturelle Leben stark bestimmt. Wie sehr, zeigt allein ein Besuch bei Professor Iannis Konstantinidis an einem Tag Ende September, an dem die Erstsemestrigen an die Universität von Makedonien nach Thessaloniki kommen, um die Resultate ihrer Eintrittsprüfung abzuholen. Während sie auf das Papier ihrer Zulassung warten, werden sie in der Eingangshalle der Universität von Vertretern der grossen griechischen Parteien abgefangen, umgarnt und angeworben. Die jungen Studierenden bekommen dann Tipps, wie sie sich im Gebäude zurechtfinden und welchen Weg durch die Institution sie nehmen sollen, um erfolgreich ans Ziel zu gelangen.

Die Kehrseite der Bürgerinitiativen

Konstantinidis untersucht die Entwicklung von Bürgerinitiativen und Selbsthilfeorganisationen in Griechenland. Die viel zitierte Solidarität, die jetzt im Land und vor allem in den Städten entstehe und im Wachsen begriffen sei, habe auch eine Kehrseite. Denn: Insbesondere der Aufstieg der rechtsradikalen Partei Goldene Morgenröte sei mit dem Aufbau von zahlreichen Bürgerkomitees verbunden. Diese würden beispielsweise als freiwillige Polizei auftreten, die behaupte, die Menschen vor Dieben zu schützen. Oder sie gebe im Stadtteil Gratismahlzeiten an Notleidende aus – allerdings nur an solche, die sich mit einer Identitätskarte als Griechinnen oder Griechen ausweisen können. Diese rein politisch motivierten Bürgerinitiativen, die einzelne gesellschaftliche Gruppen ausschliessen, zeige die dunkle Seite von Organisationen, die im Stadtteil das Zepter in die Hand nehmen, sagt Iannis Konstantinidis.

Solidarische Bewegungen wachsen

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Alles in allem aber habe das Engagement jener Freiwilligen zugenommen, die echte soziale Anliegen verfolgen. Und auch die Zahl der politisch unabhängigen Gruppierungen, die uneigennützig Nachbarschaftshilfe leisten, sei gestiegen. Solche solidarischen Bewegungen, so schätzt Iannis Konstantinidis, dürften in der nächsten Zeit noch wachsen, zumal die politischen Parteien Griechenlands angeschlagen und nicht mehr in der Lage seien, alle diese Initiativen zu kontrollieren.

Konstantinidis hofft, dass von diesen besonders engagierten Bürgerinnen und Bürgern, die sich in Initiativen zusammentun, ein Impuls ausgehe, der sich auf die gesamte griechische Gesellschaft auswirke. Dann könnten auch andere Probleme gelöst werden. In der Primarschule seiner Kinder etwa würden gerade die Nachmittagsstunden gestrichen – eine weitere Sparmassnahme im öffentlichen Dienst. Er habe deswegen am Elternabend vorgeschlagen, dass die Eltern sich zusammentun könnten und abwechslungsweise die Betreuung am Nachmittag übernehmen. Doch Konstantinidis stiess auf Ablehnung: Die grosse Mehrheit der Eltern ziehe es vor, eine individuelle Lösung zu finden, das heisst, nur für sich zu schauen und jemanden ausschliesslich für ihr Kind zu engagieren.

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