Wir schreiben den 30. Oktober 2010: Hannah Meyer (Name geändert) holt ihre Grossmutter zuhause ab fürs «Last Supper». Sie essen beide einen vegetarischen Herbstteller mit Spätzli, Marroni und Rotkraut und schauen sich beim Kaffee alte Fotos an. Nach dem Mittagessen bringt Hannah ihre Grossmutter zurück in ihre Wohnung zum Sterben. Hannah will nicht bleiben. Zwei Stunden und zahlreiche Spaziergänge später klingelt ihr Telefon. «Sie ist jetzt tot», sagt der Mitarbeiter von Exit.
Gemeinsame Urlaube
Einen Herbstteller hat sie seither nie mehr gegessen, erzählt Hannah, eine Frau Mitte 30, in einem Zürcher Café. Akzeptieren kann sie den Suizid ihrer Grossmutter bis heute nur schwer. Nach dem Tod ihres dementen Ehemannes fünf Jahre zuvor sei ihre Grossmutter förmlich aufgeblüht, sagt Hannah. Zwei Mal im Jahr fuhren Hannah und ihre Grossmutter gemeinsam in den Urlaub, sie durchstöberten Boutiquen, fuhren für Wellness nach Leukerbad, besuchten Museen.
Ihre Grossmutter litt schon länger an grauem und grünem Star, und ihr Augenlicht nahm trotz Operationen immer mehr ab. «Wenn ich einmal nichts mehr sehe, will ich sterben,» sagte die Grossmutter. Nach einer Augenoperation war die Grossmutter eine Weile ganz blind und musste in ein Pflegeheim gebracht werden. Da sie finanziell gut gestellt war, liess sich ein komfortabler Ort finden, der nahe bei Hannahs Wohnung lag. Hannah genoss diese Nähe, und sie erinnert sich noch gut an den Tag, an dem die Grossmutter ihre Enkelin an der roten Mütze erkannte, die sie gemeinsam auf einer Reise nach München gekauft hatten. Ihr Augenlicht kehrte zumindest teilweise zurück, und die Grossmutter zog umgehend wieder in ihre Wohnung, wo sie ohne Betreuung leben wollte.
Die Enkelin als Statistin im Drama der Grossmutter
Der Vorsatz der Grossmutter, sich aus dem Leben zu verabschieden, blieb bestehen. Die Vorstellung, von anderen abhängig zu werden, war ihr immer schon ein Graus gewesen. Abhängigkeit war für sie verbunden mit dem Verlust von Würde – für ihre Grossmutter die schlimmste Vorstellung überhaupt. Sie war ein «sturer Bock», wie Hannah heute sagt. Und sie hatte einen Hang zum Drama. Ihren Tod inszenierte sie, und als Statistin in ihrem Drama hatte sie ihre Enkelin vorgesehen.
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Hannah schaffte es nicht, sich dem Drama, das ihre Grossmutter sich ausgedacht hatte, zu entziehen. Im September 2010 begleitete sie ihre Grossmutter auf eine Schiffsreise auf der Elbe. Hannah hat die Reise als sehr schön in Erinnerung. Zurück in der Schweiz, brachte sie ihre Grossmutter nach Hause, half ihr beim Auspacken und Waschen. Unvermittelt teilte ihr die Grossmutter an diesem Tag mit, dass sie am 30. Oktober ihren Todestermin habe.
Die Bitte der Grossmutter
Hannahs Geschwister, die nur wenig Kontakt zu ihrer Grossmutter hatten, wollten mit den Details zur Planung des Suizids nicht behelligt werden, und auch ihrem Vater, der über mehr Distanz zu seiner Mutter verfügte, gelang es ebenfalls besser, sich abzugrenzen. Hannah war mit ihrer Grossmutter seit Jahren eng verbunden. Sie vermochte darum die Bitte der Grossmutter nicht auszuschlagen, als ihre Willensvollstreckerin eingesetzt zu werden.
Ihre Grossmutter führte sie in ihre Buchhaltung ein, gab ihr die Vollmacht über die Bankkonten, stellte ihr ihren Treuhänder vor, während der Todestermin immer näher rückte. In den letzten Wochen sichtete sie mit ihrer Grossmutter deren ganzes Hab und Gut und notierte sich, wer was erhalten sollte. «Nur ihren letzten Wunsch, dass ich beim Suizid anwesend sein soll, habe ich ausgeschlagen», sagte Hannah, und das nage bis heute an ihr.
«Du brauchst mich ja auch nicht»
Zwar habe sie nie das Gefühl gehabt, sie müsse ihre Grossmutter umstimmen. Ganz abgesehen davon, dass das nicht möglich gewesen wäre. Dennoch bat sie ihre Grossmutter, sich nicht umzubringen. «Du brauchst mich ja auch nicht», habe die Grossmutter ihr einmal vorgehalten. Dieser Vorwurf kränkte Hannah. Natürlich brauchte sie ihre Grossmutter nicht; sie war erwachsen und lebte ihr eigenes Leben. Das änderte nichts daran, dass sie ihre Grossmutter liebte, sie täglich anrief und mehrere Male die Woche besuchte, ihre Toilette putzte, für sie einkaufte.
In der Theorie hat Hannah bis heute nichts gegen Suizidbeihilfe. Es sei wie mit der Abtreibung. Auch dagegen habe sie nichts. Aber sie selber würde nie abtreiben und wolle damit nichts zu tun haben, sagt Hannah. Ebenso wenig wollte sie Teil werden der Suizidabsichten ihrer Grossmutter. Und wurde es doch.
Am Sterbebett
Als Hannah am Abend des 30. Oktober 2010 ans Sterbebett ihrer Grossmutter tritt, beginnt sie zu weinen und kann damit nicht mehr aufhören. Sie hatte bis zum letzten Moment nicht geglaubt, dass die Grossmutter es wirklich tun würde. An viel mehr erinnert sich Hannah nicht mehr. Wohl aber daran, dass die Grossmutter auf einem nassen Laken lag. Sie hatte sich beim Sterben in die Hose gemacht. Sie, die so Panik davor hatte, die Kontrolle zu verlieren, sich eine Blösse zu geben.