Es sind die Heldentaten unerschrockener Gebirgsakrobaten, waghalsiger Gipfelstürmer und ausdauernder, disziplinierter Teufelskerle, welche die alpinen Chroniken füllen. Chroniken, die wiederum von Männern geschrieben wurden. Doch das ändert sich: In den letzten Jahren erscheinen immer wieder Bücher, welche die Frauen am Berg in den Fokus nehmen.
Auch in der Schweiz hat es immer Bergsteigerinnen gegeben, die echte Pionierleistungen vollbracht haben. Und auf kaum jemanden trifft das so zu wie auf Annelies Lohner, 1918 in Bayern geboren. Sie war Teilnehmerin zweier Expeditionen in den Himalaya in den Jahren 1947 und 1949, die unter dem Patronat der Schweizerischen Stiftung für Alpine Forschung (SSAF) standen. Wobei «Expeditionsteilnehmerin» sogar etwas kurz gegriffen wäre: Es war Annelies Lohner selbst, die überhaupt erst den Anstoss gab zur Expedition von 1947.
Eine Frau – und lauter Bedenken
Im Vorwort zum Expeditionsbericht schrieb Ernst Feuz von der SSAF später: «Es war an einem verhangenen Märztag des letzten Kriegswinters, als Frau Lohner in St. Moritz mit ihrem Bergführer Alexander Graven nach einer Reihe sonniger Bergtage Pläne für den kommenden Sommer machte. Unvermittelt stellte sie dabei die Frage: Wie wäre es denn, wenn wir einmal in den Himalaya gingen? Der arvenzähe, baumlange Graven fing sofort Feuer, der Wortkarge wurde beredt […] und nun gab es kein Halten mehr.»
Beim «arvenzähen» Graven hatte man sicherlich keine Bedenken, ihn in eines der höchsten, kältesten und isoliertesten Gebiete der Welt zu schicken. Bei Annelies Lohner hingegen schon: «Wir fragten uns», so Feuz, «ob wir es verantworten könnten, einer Frau diese monatelangen, höchsten Einsatz fordernden Strapazen und Gefahren zuzumuten. Doch nach sorgfältiger Prüfung des Dafürs und Dawiders durften wir sagen: Gewogen, gewogen, und nicht zu leicht befunden.»
Dieser Ton ist Annelies Lohner immer wieder begegnet. So auch im «Echo der Zeit», das Annelies Lohner 1947 zweimal interviewt hat (s. links). Davon aufhalten lassen hat sich Annelies Lohner aber nie. Sie hat ihren Fuss dorthin gesetzt, wo noch nie ein Mensch zuvor gewesen war, ob Mann oder Frau. Doch nun genug von der männlichen Geschichtsschreibung, lassen wir zum Schluss Annelies Lohner selbst zu Wort kommen, wie sie die Besteigung des 6414 hohen Balbala beschreibt:
«Die Krönung meiner abenteuerlichen Himalayafahrt»
«Aufwärts queren wir einen Gletscher, der uns zu einem Bruch und an den Fuss der Wand des Balbala bringt. Dittert, Sutter mit Ang Norbu sind voraus. Stufen werden gehackt, und auf diesen wird nach vielen Mühen der Grad erreicht. Nun gehen Graven, Tenzing und ich an die Spitze. Der Grat ist vom weichen Neuschnee verblasen, und bei schlechter Sicht muss ein schweres Stück überwunden werden; es ist ein Rätselraten, ob man auf einer Wächte oder in der Wand ist.
Querspalten klaffen wie schwarze Mäuler, jeder Schritt muss abgewogen werden […] Wind und Wetter, Mühsal und Gefahr wird jeder Schritt abgerungen. Endlich um 10.30 Uhr erreichen wir den Gipfel des Balbala, 6419m. […] Für mich ist dieser Gipfelsieg mehr als für die glücklicheren Kameraden die lange versagte und heiss ersehnte Genugtuung, der Preis für Mühen und Nöte, die Krönung meiner abenteuerlichen Himalayafahrt.»
Annelies Lohner wurde 94 Jahre alt; sie lebte bis 2012. Ihre Villa in Münchwilen TG vermachte sie der Gemeinde – mit der Auflage, sie für Kunst und Kultur zu nutzen. In der Villa Sutter – benannt nach ihrem Ehemann Alfred Sutter, der mit ihr auf Expedition gegangen war – finden heute Vernissagen und Lesungen statt.