Nur wenige Passagiere besteigen jetzt im Winter in Maloja das Postauto, um ins Bergell zu fahren. In der kalten Jahreszeit fällt das abgelegene Tal in eine Art Winterschlaf. Hier gibt's keine Skianlagen, keine mondäne Shopping-Meile, keinen Rummel. Das stattliche Hotel «Bregaglia», ein Hotelkasten aus der Belle Époque in Promontogno, ist geschlossen. Auch die «Ciäsa Granda» ist zu, das Talmuseum in Stampa mit Werken von Varlin und der Künstlerfamilie Giacometti. Denn: Die Heizkosten wären viel zu hoch.
Beiträge zum Thema
- Wakkerpreis 2015 geht ins Bergell - die Reportage (News, 20.1.15)
- Warum das Bergell den Preis bekommt (RegionalJournal, 20.1.15)
- Andrea Garbald - Fotograf und Künstler (Kultur kompakt, 19.2.14)
- Arte Bregaglia: Kunst im Dialog mit dem Bergell (Reflexe, 8.9.08)
- Bergell steht vor Talfusion (RegionalJournal, 27.5.08)
Der freie Fall ins Bergell
Trotzdem verschlägt es den wenigen Passagieren im Postauto fast den Atem. Denn gleich nach Maloja beginnt der freie Fall. Die weite Landschaft des Engadins bricht plötzlich ab. Nach 14 Haarnadelkurven erreicht man Casaccia, das erste Dorf im Tal. Rund 1500 Menschen wohnen und arbeiten in diesem italienischsprechenden Durchgangstal. Einst eine wichtige Transitachse zwischen Nord und Süd, heute ein weitgehend abgeschnittenes Tal, nachdem 1961 der Entscheid gefällt wurde, den Gotthardtunnel auszubauen.
2008 haben die Bergeller Dörfer Casaccia, Vicosoprano, Stampa, Promontogno und Castasegna mit einem grossen Ja-Stimmen-Anteil von 80 Prozent beschlossen, die Kräfte zu bündeln und zu fusionieren. Seit 2010 ist Anna Giacometti Gemeindepräsidentin der Comune Bregaglia. Gemeinsam mit ihrem Mann bewohnt sie ein modern umgebautes altes Bergeller Haus in Stampa.
Die Künstlerdynastie Giacometti vermarkten
Vom langen Esstisch aus blickt sie auf das Haus, in dem der international bekannteste Bergeller – der Künstler Alberto Giacometti – gemeinsam mit seinem Vater Giovanni Giacometti gewohnt und im Atelier gearbeitet hat. Ein leicht übersehbare Inschrift «Atelier dei Maestro pittori scultori Giovanni + Alberto Giacometti» ist auf einem Balken des einfachen Stalles eingeritzt. Das «Centro Giacometti» soll helfen, die Bergeller Künstlerdynastie besser zu vermarkten.
«Im Sommer kommen sehr viele Leute und wundern sich, warum man hier in den Gassen in Stampa nicht mehr über die Familie Giacometti erfährt und warum man das Atelier nicht besuchen kann», erzählt die Gemeindepräsidentin Anna Giacometti. Darum unterstützt sie ihren Bruder Marco Giacometti, Initiant des «Centro Giacometti». Es soll jährlich 25'000 Besucherinnen und Besucher aus Europa und Japan anlocken.
Die Villa Garbald als Denklabor
«Mich stört diese einseitige Vermarktung», sagt Gian Andrea Walther. 40 Jahre lang war er Sekundarlehrer im Tal und über 30 Jahre Präsident des Bergeller Kulturvereins. Gian Andrea Walther ist ein Ur-Bergeller, dem das Tal mit seiner Kulturgeschichte am Herzen liegt. Er hat sich für die Renovation der Villa Garbald in Castasegna eingesetzt.
Diese Villa im italienischen Stil hat kein geringerer als Gottfried Semper entworfen. Der Zolldirektor Agostino Garbald und seine Frau, die Schriftstellerin Silvia Andrea, hatten dem damaligen Stararchitekten den Auftrag gegeben.
Nachdem ihr Sohn, der kauzige, aber begabte Fotograf Andrea Garbald, 1958 vereinsamt starb, fiel das Haus in einen Dornröschenschlaf. Gian Andrea Walther half mit, die Villa Garbald wieder zum Leben zu erwecken. Nach der Renovation und der Erweiterung durch die Basler Architekten Miller & Maranta wird das Anwesen heute für Retraiten und kulturelle Anlässe genutzt. Das sei eine gute Nische, so Walter.
Einst reich und weltoffen – jetzt arm und konservativ
Gian Andrea Walther kennt und liebt sein Tal. Die imposanten Patrizierhäuser in Vicosoprano und Stampa, die Palazzi Salis in Bondo und Soglio sind Zeugen des einstigen Reichtums. «Schon im 16. Jahrhundert wanderten viele Bündner aus den Südtälern aus – zum Beispiel nach Venedig. Einige wurden reich und kamen mit Geld und vor allem auch wichtigen Erfahrungen zurück ins Bergell», erklärt Walther. Heute sei das Tal abgeschnitten und darum konservativer, bedauert Walther.
Eine aussergewöhnliche Symbiose von Landschaft und Baukultur
Dieser einstige Wohlstand und diese einstige Weltoffenheit, kombiniert mit der Abgeschiedenheit von heute, hat Vorteile: Die Bauwut hat im Bergell nie zerstörerische Ausmasse angenommen wie in St. Moritz oder Maloja. Die Bergeller Dörfer haben die Kulturlandschaft mehr oder weniger vor Überbauungen verschont. Die Dächer der Häuser werden, so will es die Bauordnung, mit Steinplatten gedeckt, um ein einheitliches Bild zu wahren. Somit ist eine aussergewöhnliche Symbiose von Landschaft und Baukultur entstanden. Das gefällt jetzt auch dem Schweizer Heimatschutz.