«Die jungen Eltern sprechen heute kein fliessendes Iñupiaq mehr. Sie können sich mit ihren Kindern nicht in der Sprache ihres Volkes unterhalten», sagt Martha Stackhouse. Sie ist Sprachwissenschaftlerin und Lehrerin in Barrow, dem nördlichsten Ort Alaskas und mit etwa 4500 Einwohnern die wichtigste Gemeinschaft der Iñupiat.
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Martha Stackhouse klagt nicht über die missliche Lage ihrer Muttersprache: Sie tut etwas dagegen. Sie hat das «Sprachnest»-Programm gegründet: In einem Vorkindergarten sollen drei- bis fünfjährige Kinder wieder mit Iñupiaq aufwachsen. Und an den Highschools der Region versucht sie, Jugendlichen für eine Karriere als Sprachlehrer zu begeistern.
Schneemobil anstatt Hundeschlitten
Seit vor etwa anderthalb Jahrhunderten die ersten Weissen ins Gebiet der Iñupiat vorgestossen sind, hat sich ihr Leben rasant verändert: Statt im Hundeschlitten fahren sie jetzt auf dem Schneemobil übers Eis, statt in Hütten aus Torf leben sie in normalen Häusern aus Holz. Ihre Sprache geriet besonders unter Druck, sagt Martha Stackhouse: «Als ich aufwuchs, waren wir von Englisch umgeben. In der Schule wurden wir bestraft, wenn wir Iñupiaq sprachen. Über unsere Kultur lernten wir nichts.»
In den letzten Jahren war die Sprache an der Schule nicht mehr verboten, aber sie ist immer noch ein Stiefkind. In einem Rap singt die junge Iñupiaq-Lehrerin Flora Rexford: «Wir müssen unsere Sprache retten, unsere Kultur. Ich habe zwar Iñupiaq-Vokabeln gelernt in der Schule, aber unser Lehrer sagte: Mathe und Englisch sind wichtiger.» Iñupiaq wird nur wenige Stunden pro Woche unterrichtet.
Spiele aus dem Alltag
Im Spielraum des neu gegründeten «Sprachnests» in Barrow steht ein Spielzeugbackofen neben einem Jagdzelt, an der Wand hängen Bilder von Eisbären und Walen, an einem Kleiderständer Jagdkleidung. «Wir wollen den Kindern einen Unterricht bieten, der nah an ihrem Alltag ist», sagt Martha Stackhouse. «Dazu beachten wir den Jahresablauf. Jetzt zum Beispiel ist Frühling, die Vögel kommen zurück und die Wale ziehen vorbei.»
Trotz all des Wandels ist die Jagdkultur im Leben der Iñupiat noch immer tief verwurzelt. Jeden Frühling jagen sie Wale. Auch wer einen Job hat im Laden, als Lehrer, als Polizist: Im Frühling gehen fast alle Männer aufs gefrorene Meer hinaus zu den Spalten im Eis und warten mit der Harpune auf die Wale. Die Frauen helfen danach beim Zerlegen und Kochen – Schwerstarbeit bei mehreren Tonnen Fleisch pro Fisch.
Die Jagd prägt die Sprache
Die Jagd steckt den Iñupiat im Blut, und sie prägt die Sprache, erzählt Martha Stackhouse. «In ein, zwei Wochen gehen viele Familien mit ihren Kindern in die Tundra zum Zelten und Gänse jagen. Eines der kleinen Mädchen im «Sprachnest» schwärmt schon jetzt davon, und dann sage ich ihr: Ja, ich gehe auch Gänse jagen, und wir werden beide ganz aufgeregt.»
Doch noch ist das Iñupiaq für die vier Mädchen, die das «Sprachnest » bisher besuchen, ungewohnt. Die Erzieherinnen müssen Misik, Aaglu, Inukuyuk und Aagluaq langsam an die Sprache heranführen. Zum Beispiel mit Singspielen oder einfachen Begriffen wie Körperteile oder Farben. Damit die jungen Eltern ihren Kindern etwas auf Iñupiaq vorlesen können, übersetzt Marta Stackhouse Kinderbücher.
Computer heisst übersetzt «das kleine Gehirn»
Noch seien kaum Wörter verloren gegangen, sagt sie. Die Generation der Grosseltern ist ja noch mit der Sprache aufgewachsen. Und die nach wie vor starke Verwurzelung aller Iñupiat in der Jagdkultur bietet eine Basis für eine Renaissance. Aber Wörterbücher gibt es nur wenige, und diese sind rudimentär.
Als die kleine Misik mit der Spielzeug-Mikrowelle spielt, bringt das Martha Stackhouse auf eine andere offene Frage: Wie sprachlich mit den neuen Dingen umgehen, die in Nordalaska genauso Einzug halten wie in Bern oder Shanghai? «Für die Mikrowelle zum Beispiel haben wir kein Wort geschaffen. Computer aber heisst nun übersetzt ‹das kleine Gehirn› und das Wort für Tisch bedeutet ‹ein Platz zum Essen›.»
Iñupiaq-Wörterbuch fürs Smartphone
Zwar steht heute in jedem Iñupiaq-Haus ein Tisch, aber wenn mal mehr Gäste da seien, setzten sich alle ohne Aufhebens zum Essen auf den Boden. Diese Leichtigkeit, mit der vor allem die jungen Iñupiat zwischen den Welten der Vorfahren und jener der Generation Facebook wechseln, sehen die Frauen des «Sprachnest»-Teams um Martha Stackhouse nicht als Gefahr für die Sprache, sondern eher als Hoffung. Dazu Lehrerin Connie Fishel: «Meine Grosskinder wuchsen von klein an mit Handys auf, mit iPads und iPhones. Die junge Generation hat sie in unsere Kultur integriert. Sie haben ein Iñupiaq-Wörterbuch fürs Smartphone programmiert und ein Korrekturprogramm.»