Wie schwierig war es, sich für dieses Buch zurückzuerinnern?
Sonali Deraniyagala: Ursprünglich plante ich gar kein Buch. Mein Psychiater hier in New York empfahl mir, meine Erinnerungen für mich aufzuschreiben. Denn die ersten Monate, selbst Jahre danach fürchtete ich mich panisch davor, mich zu erinnern. In einem Augenblick war ja mein ganzes Leben vorbei. Aber man kann Erinnerungen nicht abstellen. Dazu kam das Gefühl der Unwirklichkeit. Ich konnte nicht fassen, dass meine ganze Familie tot war.
Sie schildern die Katastrophe und was nachher geschah mit geradezu akribischer Detailtreue.
Es war mir sehr wichtig, alles so genau wie möglich niederzuschreiben. Ich erinnerte mich an höllische Schmerzen, als ich im Wasser trieb. Denn ich wäre ja fast ertrunken. Ich erinnerte mich auch an ganz merkwürdige Dinge: Irgendwann sah ich über mir Vögel über den Himmel ziehen. Es waren Störche. Mein Sohn und ich hatten oft Vögel beobachtet. Und in diesem Moment dachte ich: Diese Störche sind gewiss aufgemalt.
Sie verbrachten lange Zeit in einem verdunkelten Zimmer bei ihren Verwandten in Colombo. Wann kamen Sie wieder ein wenig zu sich?
Etwa um den ersten Jahrestag. Und dann wollte ich das Haus meiner Eltern besuchen, doch mein Bruder hatte es an eine holländische Familie vermietet. Ich war ausser mir und startete eine Terrorkampagne, um sie zu vertreiben. Monatelang rief ich nachts an und machte gruselige Geräusche ins Telefon, um ihnen Angst einzujagen. Oder ich fuhr mit dem Auto zum Haus und trommelte ans Tor.
Wussten die Mieter, dass Sie dahintersteckten?
Anfangs nicht, glaube ich. Aber für mich waren diese Aktionen das erste Mal, das ich etwas von mir aus tat – nach Monaten des Ohnmachtsgefühls.
Was hat Sie nach New York gezogen?
Nach New York zu gehen war für mich so, als wäre ich in einem Zeugenschutzprogramm. Vielen Menschen hier habe ich von meinem Leben nie erzählt. Das geht ja auch nicht so einfach. Wenn man damit herausplatzt, ist das für das Gegenüber schockierend. Es war für mich so, als hätte ich in New York eine andere Identität.
Hat sich Ihr Verhältnis zu den Erinnerungen geändert?
Die ersten Erinnerungen galten meinen Kindern. Ich erinnerte mich beispielsweise an den Tag vor der Welle, den Weihnachtstag. Mein jüngerer Sohn Malli verkleidete sich gerne. Er war zwar erst fünf Jahre alt, aber hatte einen Hang zur Extravaganz. Wir hatten ihm als Weihnachtsgeschenk eine wunderschöne Karnevalsmaske mit bunten Federn gekauft. Er hielt sie sich vors Gesicht und tanzte auf dem Bett in unserem Hotelzimmer. Viele solche schöne Erinnerungen fielen mir ein. Und natürlich ist der Verlust schmerzlich, doch andererseits: Wenn ich einen solchen Moment beschreibe, dann verspüre ich jetzt dennoch Freude.
Sie wollten durch den Akt des Schreibens auch Sinn aus der Tragödie machen. Ist Ihnen das irgendwie gelungen?
Nein, Sinn macht es keinen. Aber eines hat sich verändert: Anfangs fragte ich mich immer wieder: «Hast du tatsächlich eine Familie gehabt?» Das tue ich nicht mehr. Dieses Buch zu schreiben hat mir das Leben gerettet.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 24.12.2014, 12:10 Uhr