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Blick in ein Hafenbecken mit Auflugsbooten und Uferpromenade.
Legende: Blickt man hinter die touristische Fassade, entdeckt man einiges: der Hafen der italienischen Insel Ponza. Reuters

Gesellschaft & Religion Inseln sind ein Traum – und ein Albtraum

Mit Inseln verbinden wir Abgeschiedenheit, Alleinsein, Isolation. Aber das Gegenteil ist der Fall: Inseln sind notwendigerweise Orte der Vernetzung und des Austauschs – und manchmal auch das Zentrum der Welt.

Insel, auf lateinisch «insula», ist ein Ort der sich «in salis» befindet, also von Salz umgeben. Ein Ort, meist mitten im Meer, abgeschieden vom Festland. So stellen wir uns Inseln denn auch vor: als einen immer fernen, immer auch isolierten Ort. Wir reden von Inselträumen und denken an Kleinode, palmengesäumt und mit Sandstränden umgeben, das Meer rundherum blau und klar.

Sowohl Paradies als auch Hölle

Inseln sind Sehnsuchtsorte, weil sie die Illusion von «weit weg» erzeugen – davon, dass man vom Rest der Welt nichts mitbekommt. Inseln wecken Sehnsüchte, heute, in einer Zeit allgegenwärtiger Erreichbarkeit vielleicht mehr denn je. Nicht ohne Grund ist Judith Schalanskys «Atlas der abgelegenen Inseln» zu einem Beststeller avanciert.

Wie präzise ist doch ihr Titel, den sie ihrem Vorwort voranstellt: «Das Paradies ist eine Insel. Die Hölle auch.» Denn Inseln waren stets auch der Ort, wohin Gefangene deportiert oder Kaiser und Könige ins Exil geschickt wurden – Elba für Napoleon, Alcatráz für Schwerverbrecher.

Auch die Schweiz ist eine Insel

Manche Insel – wie die Insel Gorée vor Dakar – waren der Ausgangspunkt für die Sklavenschiffe, die ihre Fracht über den Atlantik trugen, zu anderen Inseln, weit weg in der Karibik.

Auch die Schweiz wurde oft als Insel dargestellt. Im Ersten Weltkrieg zunächst als eine Insel der Glückseligen inmitten eines tobenden Ozeans, und später immer wieder als Insel in Europa.

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Die Erde und das Meer

Schaut man von der Insel aus auf die Welt rundherum, sieht alles anders aus. Denn das Stück Erde, auf dem der Mensch steht, ist vielleicht tatsächlich Heimat, ist Lebensmittelpunkt, ist eigenes, wenn auch karges Territorium. Die bebaubare Fläche auf Tristan da Cunha, ein Eiland mitten im Atlantik, ist winzig klein, aber auch fruchtbar seit Jahrtausenden; und auf jeder griechischen Insel sind die Terrassen zu sehen, über Generationen gepflegt, der Nährboden für alle.

Und dann das Meer: Es gibt her, was man an Proteinen braucht, die Fischer kennen die guten Fischgründe. Die Strömungen und Klippen rund um die Insel sind Teil der Geografie, sie gehören zur Insel dazu. Das Meer ist nicht nur diese weite, manchmal bedrohlich stürmische, tückische Fläche an Wasser, die eine Insel vom Rest der Welt trennt. Das Meer ist auch Transportweg, es kann befahren werden, manchmal gefahrvoll, manchmal aber auch von guten Winden getragen, einfach und leicht.

Ein Ort der Zuflucht

Deshalb finden wir auf jeder Insel die Spuren von Seefahrern. Sie haben fremde Dinge mitgebracht, erbeutete Kostbarkeiten, gefangene Sklaven, auf fremden Märkten gekaufte Waren; aber Inseln waren auch immer Orte der Zuflucht, einst für die Juden auf Djerba, heute für die vielen Flüchtlinge, die übers Meer nach Lesbos oder nach Lampedusa kommen.

Wer aber heute auf einer Insel die Geschichte entdecken will, muss tief schürfen, muss mehr tun, als an der Oberfläche kratzen. Zum Beispiel auf Ponza, einer Insel vor Neapel, die Teil der pontinischen Inselgruppe ist. Auf Ponza ist das Hafenbecken ein Gewusel von Ausflugsbooten, überall knatternde Aussenborder und das Dröhnen mächtiger Motoryachten.

Draussen in der Bucht vor der Spiaggia del Frontone liegen hunderte Segelyachten vor Anker, das Meer ist ein Parkplatz für geformten Polyester. Derweil tummelt sich auf der Promenade die geliftete Schickeria aus Rom und Neapel, die Schosshündchen fest an die aufpräparierte Brust gedrückt. Ponza ist heute für viele nicht mehr als ein Ferienparadies, eine felsige, spektakuläre Kulisse für die Reichen und die Schönen.

Die Insel als Zentrum der Welt

Wer erfahren will, was Ponza ausmacht, muss andere Wege gehen. An der Promenade unten in den Buchladen von Stefano Mazzella eintreten und das Gespräch suchen. Erfahren, was es mit den Schiffen auf sich hat, die Stefano Mazzella akribisch und schön auf grosse Bogen malt; zuhören, wie Mazzella erzählt: von den Krabbenfischern, die von Ponza aus bis nach Algerien oder Tunesien furhen und ihren Fang in Marseille verkauften. Von den Leuten auf Ponza, die auf Sardinien ihre Kolonien gründeten, und den vielen anderen, die auswanderten aufs Festland, nach Frankreich und viele, sehr viele, nach New York.

Oder man fährt hinauf zu den Hügeln. Dort trifft man Giuseppe Mazzella, den Bruder von Stefano, der in einem langen Gespräch in der untergehenden Sonne die Geschichte der Insel erzählt. Den Bezug herstellt zur Geschichte des Mittelmeers, in dessen Mittelpunkt die Insel Ponza stets stand – kolonisiert, erobert, verlassen, erniedrigt von den grossen Mächten des Mittelmeers. Und mit einem Mal rückt die Insel nicht fern weg, sondern ins Zentrum der Welt.

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