Die 7000 Zuschauer schweigen. Es ist so ruhig in der riesigen Sporthalle im asiatischen Teil Istanbuls, dass man sogar den Atem des jungen Manns auf der Bühne hört. Dogan Temiz' Hand zittert leicht, als er das Mikrofon zum Mund führt. Fragend blickt er auf die sechs Jurymitglieder, die ein paar Meter entfernt hinter ihren Tischen sitzen.
Das Publikum fiebert mit
Ein kurzes Nicken, dann schallt Dogans Stimme von unzähligen Lautsprechern verstärkt durch die Halle: «Bismillahirrahmanirrahim – im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen …» Die Aufregung ist verflogen, Dogans Gesichtszüge entspannen sich.
Während er halb singend, halb sprechend eine Sure aus dem Koran vorträgt, hält er die Augen geschlossen, wiegt fast unmerklich den Körper vor und zurück. Die meisten Zuschauer im Saal tun es ihm gleich. «Allah», bricht es aus einem Mann heraus, als Dogan eine kurze Pause einlegt. Einer jungen Frau mit seidig glänzendem Kopftuch laufen die Tränen über die Wangen.
Die Kunst, den Koran richtig vorzutragen
«Wenn jemand den Koran liest und dabei ‹Tecvid›, beherrscht, dann wird das Magische dieses Textes, das so viele Menschen fasziniert, noch magischer. Der Text berührt die Zuhörer dann in ihrer Seele», erklärt Kerim Öztürk, Dozent für Theologie an der Istanbuler Marmara-Universität.
Tecvid – damit wird die Kunst bezeichnet, den Koran richtig vorzutragen. Bei dem Wettbewerb, zu dessen Finale Dogan Temiz an diesem Wochenende nach Istanbul gekommen ist, soll derjenige gekürt werden, der das Vortragen am besten beherrscht. Von den anfangs 350 Kandidaten haben es zwölf bis hierher geschafft.
Die meisten von ihnen sind angehende Muezzins oder Imame an türkischen Moscheen. Den Koran lesen sie oft schon seit dem Grundschulalter. Aussprache, Betonung, Atemtechnik, Stimmlage – die Jury, die aus sechs der renommiertesten Religionsgelehrten der Türkei besteht, beurteilt jeden Kandidaten nach strengen Kriterien. Denn, so Theologie-Dozent Kerim Öztürk: Den Koran richtig zu lesen, ist die eine Sache. Ihn auch richtig vorzutragen, das ist die andere.
Religion statt nackte Haut – ganz in Erdogans Sinne
Der Wettbewerb, bei dem Dogan Temiz am Ende einen stolzen zweiten Platz belegen wird, passt zu der Türkei, wie sie Recep Tayyip Erdogan und die von ihm mitgegründete Regierungspartei AKP sie seit 12 Jahren aufzubauen versuchen. Halbnackte Models oder wilde Rockkonzerte sind dort verpönt. Langweilig aber soll es deswegen noch lange nicht sein.
Ob aufwendige Modeshows und Messen für islamische Kleidung, sündenfreie Hochglanzmagazine für die moderne muslimische Frau oder All-Inclusive-Hotels ohne Alkohol und mit geschlechtergetrennten Stränden: Die neue Elite der Türkei hat immer öfter genug Geld und Zeit, um das Leben zu geniessen. Nur soll das im Einklang mit ihrer Religion geschehen. Und so überrascht es nicht, wenn selbst aus der Kunst des Koranzitierens plötzlich ein Massenevent à la Castingshow wird.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 20.1.2015, 17.06 Uhr