In Ihren Büchern «Sommer aus Stahl» und «Marina Bellezza» schildern Sie die Nöte der jungen Generation in Italien. Wie geht es dieser Generation, zu der Sie als 30-Jährige selbst gehören?
Silvia Avallone: Wir müssen etwas Ähnliches tun wie unsere Grosseltern nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Zwar haben wir kein bombardiertes Land, aber wir haben im Land viele Verwüstungen, einen zerstörten Arbeitsmarkt und ein kulturelles Erbe, das im Zerfall begriffen ist. Unsere Generation muss Wiederaufbauarbeit leisten. Sie erbt ein Italien, das tief in sich zusammengesackt ist. Und sie bezahlt den Preis für eine politische Elite, die nicht bereit war, langfristig zu denken.
Italien gehört zu den europäischen Ländern mit der höchsten Arbeitslosigkeit. Am stärksten sind davon die jungen Leute betroffen. Was bedeutet das konkret?
Man spricht von 44 Prozent der jungen Leute zwischen 16 und 24 Jahren, die keine Erwerbsarbeit haben. Das heisst, es ist für uns alle unmöglich geworden, eine Arbeit zu bekommen, von der wir ausgehen können, dass sie einmal unser ganzes Arbeitsleben ausmachen wird. Eine Arbeit, die es uns erlauben würde, langfristige Projekte zu verfolgen, eine Familie zu gründen oder ein Haus zu bauen. Solche Perspektiven existieren nicht mehr. Wir stehen vor der Aufgabe, uns neue, andere Perspektiven zu eröffnen.
Mit Blick auf die junge Generation in Spanien und in Italien ist in den Medien oft von einer «verlorenen Generation» die Rede. Trifft diese Bezeichnung die Situation?
Ich nehme diesen Begriff nicht gern in den Mund, weil ich nicht so pessimistisch sein möchte. Und weil ich auch eine positive Reaktion feststelle, eine politische Reaktion, die nicht parteigebunden ist, sondern ein zivilgesellschaftliches Engagement ausmacht. Ich sehe viele junge Frauen und Männer, die von ihren Überzeugungen ausgehen und diese von unten her umzusetzen versuchen. Sie tun etwas für das Gemeinwesen, dem sie angehören. Auch wenn dies alles noch nicht repräsentativ fassbar ist: Ich beobachte eine solche Tendenz, die sich durch Altruismus und Solidarität auszeichnet.
In Ihrem neusten Buch «Marina Bellezza» thematisieren Sie die Rückkehr in die Provinz. Was tut die junge Generation in Italien in der Provinz?
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Viele kehren dorthin zurück, wo ihre Vorfahren hergekommen sind. Sie bauen zerfallene Bauernhöfe wieder auf, stellen Käse nach altem Rezept her und beleben das alte Handwerk. Das heisst nicht, aus der Provinz ein Museum zu machen. Vielmehr geht es darum, moderne Technik mit traditionellen Produktionsweisen zu verbinden. Da gibt es mittlerweile sehr innovative Unternehmen. Dies scheint mir ein konstruktiver Ansatz, um der Misere die Stirn zu bieten.
Sie haben selbst eine Nische gesucht. Wie kam es dazu?
Mit meiner Ausbildung als Lehrerin fand ich keine Stelle in der öffentlichen Schule in Italien. Also habe ich allen Mut zusammengenommen und mit dem Schreiben begonnen, also den «verrückten» Weg gewählt, der nicht Erfolg versprechend schien. Viele meiner Freunde und Bekannten haben so reagiert. Sie haben sich selbständig gemacht. Einige haben zum Beispiel eigene Bildungsprojekte aufgebaut und unterrichten jetzt junge Leute, die vorzeitig von der Schule abgegangen sind. Das ist auch ein Akt der gesellschaftlichen Solidarität. Es ist eine Art Lust entstanden, sich die Hände schmutzig zu machen.
Viele junge Italienerinnen und Italiener wählen nach dem Studium einen anderen Weg. Sie wandern aus. Ist das eine sinnvolle Alternative?
Das ist eine sehr schmerzvolle Geschichte. Das Land lässt die Leute ziehen, die es am nötigsten hätte. Sie nehmen ihr Wissen und ihre Ideen mit ins Ausland mit und setzen sie dort um. Aber wir brauchen innovative Ideen im eigenen Land, wenn wir den Übergang in eine neue Epoche, an deren Schwelle wir stehen, meistern wollen. Denn diejenigen Leute, die uns in die Zukunft führen können, sind jene, die über Ideen, Vorstellungsvermögen und Tatkraft verfügen. Es sind die besten Köpfe, die wir brauchen.