Selten hat mich eine Person so beeindruckt wie diese Frau, die mir in einer unpersönlichen Cafeteria eines Basler Hotels – gestützt auf einen Rollator – entgegenkommt. Ich mache das, was sie selber Jahrzehnte lang getan hat: Ich installiere ein Mikrofon und eröffne das Gespräch. Mit leisem Bangen. Denn vor mir sitzt eine Topjournalistin.
Ruth Weiss spricht Deutsch, mit leiser Stimme, sehr präzise – fast druckreif. Sie sei, beginnt sie zu erzählen, in Deutschland geboren und zur Schule gegangen, bevor sie und ihre Eltern ausreisten. Auf einem der letzten Schiffe, das Juden aus Nazideutschland nach Südafrika brachte.
Vom Antisemitismus in die Apartheid
Doch als die 12-jährige Ruth im Land der Rassentrennung ankam, registrierte sie entsetzt, dass weisse Kinder nicht mit schwarzen Kindern spielen durften – so, wie in Deutschland «arische» Kinder nicht mehr mit ihr, dem jüdischen Kind, spielen durften.
Ihre Eltern führten in einem ärmlichen Viertel in Johannesburg einen kleinen Laden, doch sie weigerten sich, Afrikaans zu lernen. Stattdessen brachten sie dem schwarzen Hausmädchen Fränkisch bei und so, Ruth Weiss lächelt, habe auch sie ihr Deutsch behalten.
Zuerst schrieb sie die Artikel für ihren Mann
In Johannesburg verkehrte Ruth Weiss mit intellektuellen Flüchtlingen, zu denen auch Hans Weiss gehörte: Einiges älter, aus reichem Berliner Haus stammend, war er tonangebend in der Clique. Als er Ruth Weiss als seine dritte Frau zum Standesamt führte, wählte er einen Freitag den 13. Weil es da keine Warteschlangen geben würde beim Standesamt.
Hans Weiss legte keinen Wert auf Besitz. Er gab das Geld, das er nicht hatte, mit vollen Händen aus. Ruth Weiss war es, die Geld verdiente, mit einem Spitzenjob in der Versicherungsbrache. Sie schrieb auch immer öfter seine Artikel, die er als Journalist nach Deutschland liefern sollte.
Zu kritisch, Persona non grata
«I don’t know why I was so wrapped up with Hans. He was my friend, lover, mentor. He filled my life, yet I don’t think I was ever in love», schriebt sie in ihrer Autobiografie: Abhängigkeit statt Liebe. Keine glückliche Beziehung, doch sie führte dazu, dass Ruth Weiss sich als Wirtschaftsjournalistin etablierte.
Ihre Artikel wurden immer kritischer, je grausamere Züge die Apartheitspolitik in den 60er-Jahren annahm – bis das Regime sie als Persona non grata aus dem Land warf. Sie ging nach Rhodesien, wo ihr dasselbe passierte. Es folgten London, Sambia, Köln, wieder London, Zimbabwe, Isle of Wight und schlussendlich Deutschland, wo sie heute lebt.
Eine glasklar denkende Zeitzeugin
Ruth Weiss erzählt in der trostlosen Cafeteria von einem beruflich reichen, ungewöhnlichem Leben, das durchzogen ist von einigen sehr bitteren Enttäuschungen. Sie spricht ohne eine Spur von Selbstmitleid oder Bitterkeit. Ihre Geschichten sind reich an Details, und je länger ich ihr zuhöre, desto faszinierter bin ich vom enormen Wissen dieser glasklar denkenden Zeitzeugin, die neugierig die aktuelle Geschichte des südlichen Afrikas in unzähligen Artikeln, Radiosendungen und Büchern dokumentiert.
Nach 1,5 Stunden Aufnahmen fragt sie mich ganz besorgt, ob das nicht viel zu ausführlich sei? Im Gegenteil. Ich hoffe, das war erst der Anfang.