Zum Inhalt springen
Man sieht ein Haus hinter einer Lärmschutzwand direkt an der Autobahn.
Legende: Eine Lärmschutzwand schützt die Bewohner eines Quartiers in Baltenswil (ZH), 27.8.2007. Keystone

Gesellschaft & Religion Kampf für die Ruhe – nicht gegen den Lärm

Seit über 100 Jahren bekämpft der Mensch aktiv den Lärm. Und doch haben wir nicht den Eindruck, dass es dadurch ruhiger geworden ist. Das Bundesamt für Umwelt verspricht sich Abhilfe durch Ruheschutz – andere versuchen, mit Klangraumgestaltung den öffentlichen Raum wieder ruhiger zu machen.

Lärm ist etwas Subjektives, denn er entsteht erst im Kopf aus einem Geräusch. Natürliche Geräusche von Tieren oder Gewässern werden meist als angenehm empfunden, obwohl beispielsweise an einem Fluss ein ähnlich hoher Lärmpegel gemessen wird wie inmitten des städtischen Verkehrs. Am Verkehrslärm leiden die meisten Menschen in der Schweiz – jeder sechste ist übermässigem Lärm ausgesetzt.

Schützt Lärmschutz bloss den Lärm?

Literaturhinweis

Box aufklappen Box zuklappen

Sieglinde Geisel: «Nur im Weltall ist es wirklich still», Verlag Galiani, 2010.

Mit Lärmschutz-Massnahmen an Strassen und Schienen und schallabschirmenden Fenstern wird seit einigen Jahrzehnten versucht, das Übel an der Wurzel zu packen. Ein neuer Industriezweig hat in ganz Europa Milliarden verbaut. So dass man sich getrost fragen kann, ob diese Lärmschutzwände nicht eher den Lärm als die Menschen, die sich hinter Lärmschutzfenstern verbarrikadieren müssen, schützen. So formuliert es Sieglinde Geisel in ihrem Buch «Nur im Weltall ist es wirklich still». Ihr Vorschlag: «Eine billigere und menschlichere Alternative bestünde darin, den Lärm nicht auszusperren, sondern dafür zu sorgen, dass er gar nicht entsteht.»

Lärm ist nicht gleich Lärm

Box aufklappen Box zuklappen

Andere Epoche, anderes Lärmempfinden: Schon bei den Römern war der Lärm ein Thema, so auch der Lärmempfindliche. Im Mittelalter verdrängte ihn der Gestank von der Spitze der Ärgernisse. Mit der Industrialiserung rückte er wieder in den Vordergrund. Th. Lessing veröffentlichte 1908 «Der Lärm» , eine «Kampfschrift gegen die Geräusche unseres Lebens».

Doch dieser Anspruch wirkt in unserer mobilitätsgeprägten Gesellschaft anachronistisch. Auch das Bundesamt für Umwelt weiss, dass mit solchen Anliegen nichts zu gewinnen ist. Urs Walker, Abteilungsleiter Lärm, betont, dass etwa die Baumaschinen heute leiser seien, sogenannte Flüsterbeläge auf den Autobahnen und Spezialreifen würden den Verkehr ruhiger machen.

Und doch hat man den Eindruck, unser Alltag werde immer lauter. Walker widerspricht: «Die Lärmbekämpfung hat Erfolge gebracht, die aber vom Mehrverkehr im Zusammenhang mit dem Bevölkerungswachstum aufgefressen werden – zumindest ist es nicht lauter geworden.» Eine Aussage, die überrascht. Auch wenn Vergleiche schwierig sind, gelten tatsächlich die 60er Jahre als das lauteste Jahrzehnt. Geprägt von der Motorisierung und einer überdurchschnittlichen Bautätigkeit in den Städten.

Ruheschutz und Klangraumgestaltung

War früher Lärm die Ausnahme, so muss der moderne Mensch die Ruhe suchen. Mit dem Trend zur 24-Stunden-Gesellschaft gibt es auch viel weniger Konsens über ruhige Zeiten. Darum heisst Lärmschutz heute Ruheschutz, so wie Atomkraft besser verträglich Kernkraft heisst oder Krankenkassen lieber Gesundheitskassen sind.

Urs Walker schmunzelt über diese Vergleiche, verneint aber jede schönfärberische Absicht: «Lärmbekämpfung ist reaktiv, es geht darum, ein Abfallprodukt von technischen Aktivitäten auf ein Minimum zu senken.» Wogegen Ruheschutz etwas Proaktives sei, mit der Frage, «wo haben wir ruhige Gebiete und was können wir tun, damit die Situation wenigstens so bleibt.»

Dazu muss zuerst leiser werden, was zu laut ist. Aber es braucht auch eine andere Planung in Quartieren und Städten. Denn im Gegensatz zum Visuellen wird der Klang im öffentlichen Raum meist dem Zufall überlassen. Grünräume und Freiräume verlieren ihre klanglichen Qualitäten und «verlärmen».

So sieht es der Musiker und selbsternannte Klangarchitekt Andres Bosshard: «Der Verkehr ist nervös, ich nenne das Choreophonie, Bewegungen und Klang eines Raumes spielen nicht mehr zusammen. Man kann aber jeden Raum so umbauen, dass es ein Spiel ergibt. Wird ein Raum schön von uns bespielt, tun wir etwas damit, wenn wir aber nur durchgehen, nutzt das einen Platz ab.» Längst hat sich der Mensch ans Weghören gewöhnt, unterscheidet im öffentlichen Raum nur noch zwischen Lärm und Ruhe.

Meistgelesene Artikel