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Ein Kind auf einem Asphaltplatz spielt «Himmel und Hölle».
Legende: Himmel oder Hölle? Kindererziehung zwischen Glauben und Gewalt. Colourbox

Gesellschaft & Religion Körperstrafe in Gottes Namen? Kritik an evangelikaler Erziehung

Eine Studie der Fachstelle für Sektenfragen «infoSekta» sorgt für Rauschen im Blätterwald. Sie nimmt 21 Elternratgeber und Erziehungskurse aus evangelikalen Kreisen unter die Lupe. Dabei stellt sie fest, dass in einigen körperliche Züchtigung propagiert wird – auch Freikirchen stehen am Pranger.

Um es gleich vorweg zu nehmen: Körperliche Gewalt in der Erziehung ist in der Schweiz weit verbreitet. Und zwar ganz unabhängig von der religiösen Gesinnung der Eltern. Eine Studie der Universität Fribourg zum Bestrafungsverhalten von Eltern in der Schweiz aus dem Jahre 2004 zeigt, dass hierzulande über 40% der Kinder unter vier Jahren Körperstrafen ausgesetzt sind.

Wie viele der betroffenen Kinder aus evangelikalen Familien stammen, erhebt die Freiburger Studie nicht. Zahlen gibt es nur für Deutschland. Dort allerdings zeigen Studienergebnisse des Kriminologischen Institutes Niedersachsen aus dem Jahr 2010 auf, dass Kinder aus evangelikalen Freikirchen-Familien häufiger geschlagen werden als Kinder aus protestantischen, katholischen oder muslimischen Familien.

Die evangelikale Erziehung gibt es nicht

Doch aufgepasst: Es soll nun nicht darum gehen, Angehörige von Freikirchen pauschal als Züchtigungspädagogen zu diffamieren. Denn die Palette evangelikaler Erziehungsprogramme ist breit. Darunter gibt es zweifellos liberale, aber es gibt eben auch hochproblematische. Zu Letzteren gehört der Ratgeber «Kindererziehung nach Gottes Plan» von Anne Marie und Gary Ezzo, den die «infoSekta»-Studie als systematische Anleitung zu körperlicher und psychischer Misshandlung von Kindern einstuft.

Studie der «infoSekta»

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Die Studie der «infoSekta» mit dem Titel «Erziehungsverständnisse in evangelikalen Erziehungsratgebern und -kursen» wurde in Zusammenarbeit mit der Stiftung Kinderschutz Schweiz durchgeführt.

«Wir lassen alle Türen offen»

Aktuell bieten beispielsweise die «Gemeinde für Christus» – eine Freikirche mit Hauptsitz im Bernischen Herbligen – und die «Freie Christengemeinde Flawil» Kurse auf der Basis von «Kindererziehung nach Gottes Plan» an. Für Paul Aerni, den Kursleiter in Flawil ist die Beurteilung von «infoSekta» haltlos. Die Inspektoren hätten einfach das entsprechende Kapitel gesucht und innerhalb dieses Kapitels jene Stelle gefunden, wo das Autorenpaar Ezzo die Körperstrafe als letzte Konsequenz beschrieben.

«Liest man den ganzen Kursinhalt, so stellt man fest, dass es den Autoren vor allem darum geht, das Herz des Kindes zu erreichen», sagt Aerni und fragt: «Aufgrund welcher Aussagen kommt man zum Schluss, dass dieser Kurs zu psychischer Misshandlung von Kindern anleite? Etwa weil für das Setzen von Grenzen und Respektieren von Autoritäten wie Eltern plädiert wird? Oder weil Kinder zu Gehorsam erzogen werden sollen?»

In seinem Kurs werde die Körperstrafe nicht propagiert. «Wir reden über sie, lassen aber den Teilnehmern alle Türen offen. Jeder muss dies selber entscheiden und verantworten.» Und schon steht man mitten drin in der schwierigsten Frage aller Eltern: Wie erzieht man richtig? Wie bringt man seinen Kindern die Werte bei, die man für unverzichtbar hält, ohne dabei die kindlichen Rechte zu verletzen und ohne unzulässigen Druck oder gar Gewalt anzuwenden?

Kursleiter in der Pflicht

Bei der «Gemeinde für Christus» wird man mit Anfragen an den Spezialisten verwiesen. Armin Mauerhofer ist Pastor der Freien Evangelischen Gemeinde Aarau. Zudem ist er als Professor für Pädagogik und Entwicklungspsychologie an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel tätig und lehrt an der Bibelschule der «Gemeinde für Christus». Er teilt die Meinung von «infoSekta», dass die Autoren Gary und Anne-Marie Ezzo unangemessene Körperstrafen empfehlen.

In deren Ratgeber werde aber nicht nur über die Köperstrafe gelehrt. «Es werden auch viele hilfreiche Gedanken entfaltet», sagt er und fügt hinzu: «Ich hoffe, dass die, welche den Kurs durchführen, auf die in diesem Buch empfohlenen unangemessenen Strafen hinweisen und sich davon distanzieren.»

«FamilyTrain» – ein populärer Kurs am Pranger

EIn kleines Mädchen hält die ausgestreckte flache Hand an eine Scheibe.
Legende: Was zum Wohl des Kindes beiträgt, ist umstritten. Colourbox

Ins Kreuzfeuer der Kritik ist auch der evangelikale Erziehungskurs «FamilyTrain» geraten, der unter anderem von der in Thun beheimateten «Gemeinde postmoderner Christen» GMPC angeboten wird. Der Kurs basiert auf dem Buch «Eltern – Hirten der Herzen» von Tedd Tripp.

Gemäss «infoSekta» wird darin körperliche Züchtigung von (Klein-)Kindern als notwendiges, von Gott verordnetes Mittel zur Erreichung der Erziehungsziele angepriesen. Die Fachstelle bezeichnet auch dieses Buch als Anleitung zur systematischen Gewaltanwendung gegen Kinder.

Telefonisch will bei der GPMC niemand Auskunft geben. Dani und Karin Zaugg vom dortigen Familiendienst schicken eine schriftliche Stellungnahme zur Studie der «infoSekta». Darin heisst es: «Wir distanzierten uns immer klar zu der Aussage, dass körperliche Züchtigung ein unverzichtbares, von Gott beauftragtes Werkzeug in der Erziehung ist.»

Es folgt der Hinweis auf das 10 Jahre alte Statement im «FamilyTrain»-Kursmaterial zu körperlicher Züchtigung, welches lautet: «Es muss ganz klar gesagt werden, dass wir unsere Kindererziehung auf Wertschätzung, Liebe, Ermutigung, viel Gebet, einem ungetrübten Vertrauensverhältnis, Unterweisung, natürlichen Konsequenzen, usw. basieren wollen. Das Thema Körperstrafe ist nur ein kleiner Puzzle-Stein, der in keiner Weise überbetont werden darf!» Die Stellungnahme schliesst mit dem Hinweis: «Da sich in unserer Kultur während der letzten 10 bis 20 Jahre eine klare Abstinenz zum Thema der körperlichen Züchtigung entwickelt hat, ist es uns schon seit längerem ein Anliegen, den FamilyTrain-Kurs zu überarbeiten und, wo nötig und sinnvoll, den heutigen Umständen anzupassen und das Diskussionsthema der körperlichen Züchtigung dabei gänzlich wegfallen zu lassen.»

Dachverbände reagieren

Die Freikirchenverbände «Schweizerische Evangelische Allianz» SEA und «Verband VFG – Freikirchen Schweiz» haben das Problem erkannt. Beide lehnen Gewalt als Erziehungsmethoden ausdrücklich ab. Dem VFG sind aber aufgrund seiner Verbandsstruktur, welche die Autonomie der über 700 zugehörigen Ortskirchen nicht einschränkt, weitgehend die Hände gebunden. Die SEA verweist auf ihre «AG Forum Ehe + Familie», die sich in der Aufbauphase befinde und zu der christliche Organisationen eingeladen werden, die sich mit Familie und Kindererziehung beschäftigen. Eine detaillierte inhaltliche Beurteilung der von diesen Organisationen vertretenen Erziehungskonzepte stehe noch aus. Man darf gespannt sein.

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