- «Der Mann ist die Norm, die Frau ist die Abweichung von der Norm.» So ist die Ansicht im 19. Jahrhundert.
- Die Abweichung von der Norm ist auszumachen am grössten Unterschied: der Gebärmutter.
- Der «physiologische Schwachsinn des Weibes» liege in der Gebärmutter begründet.
Frau ist Frau wegen der Gebärmutter
Die Entwicklung der modernen Gynäkologie verrät einiges über die Eigenheiten des weiblichen Körpers, vielmehr aber über die Eigenarten gesellschaftlicher Normen im 19. Jahrhundert.
Die Mediziner jener Zeit hatten zunächst nämlich eher den Kopf als den Unterleib der Frau im Sinn. Die moderne Gynäkologie begann nämlich mit der Frage, warum Frauen so sind, wie sie sind. Marion Hulverscheidt, Medizinhistorikerin an den Universitäten Kassel und Zürich, fasst die Geisteshaltung der Pioniere der Frauenmedizin zusammen: «Die Frau ist das, was sie ist, weil sie eine Gebärmutter hat.»
Die Gebärmutter, das verdächtige Organ
Die Gebärmutter ist seit der Antike ein verdächtiges Organ. Auch von den Medizinern des 19. Jahrhunderts wird sie für Störungen und vermeintliche Defizite der Frau verantwortlich gemacht. Dass Frauen in der Gesellschaft eine minderwertige Stellung haben, sehen sie als naturgegeben an: Es müsse mit ihrem Körper zu tun haben, dass sie in der sozialen Hierarchie unter dem Mann steht. «Es sind die Organe, die nach damaliger Denkart, einen Menschen konstituieren.» Kulturell zugesprochene Eigenschaften wie Sanftmut, Kinderliebe oder Häuslichkeit, habe man auf die Besonderheit ihrer weiblichen Organe zurückgeführt, sagt Marion Hulverscheidt.
Weiblichkeit wird zur Krankheit
Der männliche Körper wurde im 19. Jahrhundert zur Norm erklärt. Was davon abweicht im weiblichen Körper, aber auch im zwittrigen Körper, musste genau beobachtet und, wenn für nötig befunden, behandelt werden. Der weibliche Genitalapparat bekommt fortan pathologische Züge. Das Frausein wird medikalisiert. Weiblichkeit wird zur Krankheit.
Wenn eine Frau nicht so ist, wie sie sein sollte – wenn sie krank wird oder ein unübliches Verhalten zeigt, dann ist die Ursache primär in jenen Organen suchen, die sie vom Mann unterscheiden. Die Gynäkologen, die ihre Disziplin im 19. Jahrhundert als selbständiges Fach etablieren, fühlen sich von Beginn an nicht nur für die Heilung körperlicher Frauenkrankheiten zuständig, sondern auch für die Behandlung psychischer und moralischer Störungen.
Wie es der angesehene deutsche Frauenarzt Paul Möbius damals formulierte, für den «physiologischen Schwachsinn des Weibes». Die so genannte Hysterie wird dabei körperlichen Krankheiten wie Krebs oder Zysten gleichgestellt. «Als hysterisch galt eine Frau Ende des 19. Jahrhunderts bereits, wenn sie Menstruationsschmerzen hatte. Aber auch, wenn sie ihre Rechte einforderte und ihrem Mann die Stirn bot», so Hulverscheidt. Es habe im 19. Jahrhundert auch ein grosser Streit darüber geherrscht, ob die Psychiater oder die Gynäkologen für die «Hysterikerinnen» zuständig seien. Meist hätten die Frauen selber um Hilfe nachgesucht.
Eierstöcke müssen weg
Mit der ersten schmerzlosen Operation unter Äther im Oktober 1846 und mit der Einführung der Antisepsis, der modernen Desinfektions- und die Hygienemassnahmen, geht die Tür für die gynäkologische Chirurgie weit auf. Das Organ, das verantwortlich gemacht wird für die Störungsanfälligkeit der Frau, bleibt jedoch vorerst unangetastet. Bei Eingriffen an der Gebärmutter ist die Verblutungsgefahr zu gross.
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Die gynäkologischen Chirurgen weichen deshalb auf ein anderes weibliches Organ aus. Anstelle der Gebärmutter operieren sie die Eierstöcke. Die Ovarektomie, die Entfernung der Eierstöcke ist Ende des 19. Jahrhunderts so häufig, dass selbst der Erfinder der entsprechenden Operationstechnik, der Brite Thomas Spencer Wells, seinen Berufskollegen vorwirft, ihre Operationswut reiche mittlerweile an jene der Kastrateure der neuseeländischen Ureinwohner heran.
Doch seien die Ärzte des 19.Jahrhunderts nicht nur von den Moralvorstellungen ihrer Zeit getrieben gewesen, sagt Medizinhistorikerin Marion Hulverscheidt. Auch reale Angstbilder hätten zum radikalen Schnitt an der Frau geführt. Immer wieder seien die Ärzte mit Frauen konfrontiert gewesen, die elendiglich an unbehandelten Karzinomen verstorben seien.
Der Mann ist die Norm, die Frau ist der Spezialfall
Erst nach dem Ersten Weltkrieg wird die Chirurgie ihre Vormachtstellung in der Gynäkologie teilweise verlieren. Jetzt rücken wieder die Säfte in den Fokus. Aber nicht mehr die antiken – schwarze Galle, grüne Galle, Blut und Schleim – sondern die Hormone.
Das Verhältnis der Ärzte zur Gebärmutter entkrampft sich. Stattdessen rücken nun die Eierstöcke und die hormonelle Balance der Frau ins Zentrum ihres Interesses. Damit setzt eine neue Ära ein: die Medikalisierung und Normierung der hormonellen Umbruchphasen im Leben der Frau – Pubertät, Schwangerschaft, Geburt und Wechseljahre. Auch diesmal gestützt durch die Prämisse: Der Mann ist die Norm, die Frau ist der Spezialfall.