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Gesellschaft & Religion Lampedusa – mit Kunst gegen das Meer aus Not und Elend

Am 3. Oktober 2013 ertranken 365 Flüchtlinge im Meer vor der italienischen Insel Lampedusa. In Erinnerung an die Tragödie fand am Jahrestag das Festival «Sabir» statt, das mit Theater, Flashmob und Kunstinstallationen auf Problematik und Widersprüche zum Thema Migration aufmerksam machen will.

Die Gegensätze könnten nicht grösser sein: Einerseit besitzt das nur 8 km lange Eiland, 200 km südlich von Sizilien und nur 130 km von der tunesischen Küste entfernt, einen der schönsten Strände Europas. Andererseits steht Lampedusa sinnbildlich für das Flüchtlingsdrama, das sich im Mittelmeer abspielt. 368 Menschen kamen vor einem Jahr – am 3. Oktober 2013 – vor der Insel ums Leben. Das Boot mit 500 Flüchtlingen aus Afrika fing Feuer und kenterte.

Zum Gedenken daran organisierten Künstler, Menschenrechtsorganisationen und die Gemeindeverwaltung der Insel auf den Jahrestag hin das Kunstfestival «Sabir». Der Titel verweist auf eine gemeinsame Sprache der Seefahrer, die bis ins 19. Jahrhundert in Anlehnung an das Arabische in vielen Häfen des südlichen Mittelmeers gesprochen wurde.

Kunstfestival zur Erinnerung an die Tragödie

Doch der Titel ist auch Kritik: Denn was einst europäische, afrikanische und kleinasiatische Küsten sprachlich verbunden hat, klafft heute in Zeiten von Flüchtlingströmen wirtschaftlich und politisch weit auseinander.

Ascanio Celestini, der künstlerische Leiter von «Sabir», hat einen klaren politischen Anspruch: «Die Festivalbeiträge sollen die Widersprüche deutlich machen: Wollen wir beim Thema Migration die Ursachen vergessen, mit Nummern und Zahlen rein technische Lösungen finden? Oder wollen wir die heutigen Probleme lösen, indem wir aus den Fehlern der Vergangenheit lernen?» Der Autor und Regisseur aus Rom inszeniert an vier Abenden auf zwei Bühnen: auf der Via Roma, dem «Corso» der Inselstadt und auf dem sogenannten «Schiffsfriedhof».

Installation zwischen beschlagnahmten Fischerbooten

Zwischen Fischerbooten aus Tunesien, Libyen und Ägypten – als Schlepperboote von den italienischen Behörden beschlagnahmt – inszenieren die tunesisch-belgischen Brüder Ali und Hèdi Thabe mit «En attendant les Barbares» ein Tanz- und Musiktheater. Auf Hauswänden und Segeltüchern einer Fahrradprozession werden Interviews projiziert: Ascanio Celestini lässt die Einheimischen erzählen von ihrer Hilfsbereitschaft gegenüber Migranten aber auch von der Überforderung angesichts des jahrelangen Flüchtlingsansturms.

«Die einen wollen, dass die ganze Welt über Lampedusa redet: als Ort, wo Flüchtlinge Aufnahme finden. Die anderen sagen: Schluss mit dem Thema, Lampedusa ist doch nicht nur Flucht und Tod! Letztendlich bleiben auf der Insel die Flüchtlinge aber das bestimmende Thema», so Ascanio Celestini.

«Geister-Flashmob im Meer

Am Jahrestag des Unglücks hat er deshalb einen Flash Mob inszeniert. An einem der Badestrände steigen 368 Menschen mit weissen Leintüchern ins Wasser. Als «Geister» erinnern sie nicht nur an die Tragödie vor einem Jahr vor der Insel, sondern auch an die vielen Tausenden von namenlosen Opfern im Mittelmeer: Suchende nach Schutz und Sicherheit, einem besseren Leben in Europa – deren Weg aber in den Tiefen des Meeres endete.

Das Festival steht nicht allein im Anspruch, künstlerisch und intellektuell mit dem Flüchtlingselend auf dem Meer umzugehen. Giacomo Sferlazzo betreibt ein kleines Atelier. Der Künstler und Musiker ist in Lampedusa aufgewachsen und beteiligt sich am Kulturkollektiv Askavusa. Auf verschiedenen Schiffsfriedhöfen und wilden Müllkippen hat er Gegenstände zusammengetragen, welche die Flüchtlinge bei ihrer Ankunft hinterlassen haben. Fotos, Milchflaschen, Zigaretten, Kochgeschirr, Musikkassetten, Kleidungsstücke und Schwimmwesten.

Collagen aus Gegenständen der Flüchtlinge

Daraus schafft Sferlazzo Bilder und Kollagen, präsentiert die Gegenstände aber auch in einer Sammlung «ohne Titel». «Jedes einzelne Stück spricht für sich selbst, stammt von ganz normalen Menschen, die sich ihr Flüchtlingsschicksal nicht ausgesucht haben. «Das sind keine Illegalen, das sind ganz normale Menschen, wie du und ich, die essen, Musik hören, sich die Zähne putzen.» Giacomo Sferlazzo will nicht nur die Geschichte der vielen namenlosen Migranten bewahren, er klagt auch politisch an: «Nie hat man versucht, diesen Menschen eine reguläre Ausreise zu verschaffen. Unsere Politik zwingt sie zur Illegalität.»

Giacomo Sferlazzo hat sich nicht am «Sabir»-Festival beteiligt. Auch auf der Insel herrschen Gräben, Misstrauen zwischen Kunstschaffenden, zwischen Einheimischen und Auswärtigen: eigenen und importierten Ideen. Dabei eint Festival-Befürworter und Gegner mehr, als sie trennt: Das Gefühl der Ohnmacht in diesem Meer aus Not und Elend.

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