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Ein Mann geht an einem Haus vorbei, auf dessen Fassade EInschusslöcher zu sehen sind.
Legende: Wunden an den Wänden: Die türkische Regierung betreibt in Kurdistan eine Politik der verbrannten Erde. Keystone

Gesellschaft & Religion Leid ohne Ende: Es ist wieder Krieg in Kurdistan

Die Repression an den Kurden, die in diesen Tagen weiter eskaliert, nahm ihren Anfang in Diyarbakir. Denn hier, im Zentrum Kurdistans im Osten der Türkei, fügt sich zusammen, was die kurdische Identität ausmacht: die Geschichte, die Traditionen – und die direkte Demokratie. Das alles wird zerstört.

Die ersten klaren Hinweise fanden sich auf Satellitenbildern. Darauf war zu sehen, was das türkische Militär, was Bagger und Bulldozer in der Altstadt der kurdischen Stadt Diyarbakir angerichtet hatten.

Etwa ein Viertel der Altstadt, ein dicht besiedeltes Quartier innerhalb der Stadtmauern, war dem Erdboden gleichgemacht worden. In den Quartieren Fatihpasa, Hasirli, Dabadoglu, in denen über 50'000 Menschen leben, klaffen riesige Lücken, leergefegte Plätze, wo früher Häuser standen.

Bilder der Zerstörung

Die Stadtverwaltung von Diyarbakir hat versucht zu dokumentieren, was in der Altstadt Sur, so die Bezeichnung für den ältesten Stadtteil, alles an Kulturgütern verloren ging.

Ein rauchender Kurde sitzt vor seinem Haus neben zwei Teppichrollen.
Legende: Er geht – aber wohin? Strassenzene in der Altstadt von Diyarbakir. Keystone

Dass unter anderen die Vier-Säulen-Moschee, die Surp-Giragos-Kirche, die Scheick-Mutahhar-Moschee, die armenische Kirche und viele andere schwer und teilweise unrettbar beschädigt sind.

Die Altstadt Sur, deren Befestigungsmauern aus dem Jahr 349 stammen und unter dem Schutz der UNESCO stehen, soll, so gehen Gerüchte, in einen Lunapark verwandelt werden.

Der Jubel ist verhallt

Im letzten Sommer, nach dem Wahlsieg der HDP, die sich für Liberalität und Diversität in der Türkei einsetzt, namentlich auch für die Minderheiten, sah alles gut aus. Jubel in den Strassen von Diyarbakir, der historischen Hauptstadt der Kurden.

Dann aber ging es Schlag auf Schlag: die Anschläge auf Kundgebungen zuerst, dann erneute Wahlen, bei denen die HDP weniger Stimmen machte (aber weiterhin im Parlament stark vertreten blieb), dann die ersten Provokationen, dann der globale Vorwurf der Unterstützung einer terroristischen Organisation.

Systematische Säuberung

Mit diesem Argument ging die Polizei in der Altstadt Sur gezielt gegen Jugendliche vor, sie provozierte. Einige wurden, so berichten Augenzeugen, verhaftet, andere auch gefoltert, viele mit Kopfschuss getötet. Die Arbeit erledigten die berüchtigten Özeltims, Spezialeinheiten des Innenministeriums, die direkt Präsident Recep Erdogan unterstellt sind.

Im beginnenden Winter letzten Jahres wehrten sich die Bewohner.

Sie errichteten Sperren, bunkerten sich ein, riefen eine eigene Verwaltung aus. Für das Regime von Präsident Erdogan war das der Anlass, um unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung mit der systematischen Säuberung zu beginnen.

Häuserkampf inmitten von Sur, gezielte Erschiessungen, dann die Zerstörungen. Die Bewohner konnten nicht mal ihre Habseligkeiten mitnehmen. Alles landete auf Schutthalden ausserhalb der Stadt.

Auch andere Städte wurden zerstört: Cizre, Sirnak, Yüksekova, Nüsaibin, Hakkari.

Politik der verbrannten Erde

Im Frühsommer reiste eine Delegation von Schweizer Parlamentarierinnen und Parlamentariern nach Diyarbakir, um sich vor Ort ein Bild zu machen. Die Delegation, bestehend aus den Nationalrätinnen Claudia Friedl, Laurence Fehlmann, beide von der SP, Claude Béglé von der CVP, Sibel Arslan von Basta/Grüne, und Mustafa Atici, Grossrat der SP in Basel. Sie wurde geleitet von der Theaterautorin und Schauspielerin Anina Jendreyko, die lange in Diyarbakir gearbeitet hatte.

Die Delegation erfuhr, was sich dieser Tage nun konkretisiert: Dass die türkische Regierung im Osten der Türkei eine Politik der verbrannten Erde betreibt. Die Kurdinnen und Kurden, ihre Verwaltung, ihre demokratischen Strukturen sollen zerstört werden, sagt Delegationsleiterin Anina Jendreyko in der Sendung «Passage».

Das Schweigen Europas

Der nächste Schlag folgte letzte Woche mit der Verhaftung der Bürgermeisterin von Diyarbakir, Gültan Kisanak und Bürgermeister Firat Anli. Dann die Verhaftung des Chefredakteurs der Zeitung «Cumhürryet».

Diese Woche dann die Verhaftung der gesamten Parteiführung der HDP – unter ihnen Parteipräsident Selahattin Demirtas und Parteipräsidentin Figen Yüksekdag. Umgehend riefen kurdische Kreise in der Türkei auf, Europa müsse nun endlich zu den Vorkommnissen in der Türkei Stellung nehmen.

Bundesrat Didier Burkhalter hat diese Woche den türkischen Aussenminister Mevlüt Çavuşoğlu empfangen. Eine deutliche Stellungnahme von Seiten der Schweiz steht noch immer aus.

Am 4. November detonierte eine Bombe in Diyarbakir. Was in Sur, in der Altstadt vor einem Jahr begann, ist nun Wirklichkeit. Der Krieg ist zurück in Kurdistan.

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