Leslie Jamison, Sie sind Expertin für Empathie. Was bedeutet der Begriff «Empathie» genau?
Leslie Jamison: Es ist lustig, immer wenn ich auf Tour bin, werde ich als Expertin vorgestellt. Das Erste, was ich dann jeweils sage, ist: «Ich bin keine Empathie-Expertin.»
Versuchen Sie's trotzdem – immerhin haben Sie ein Buch darüber geschrieben.
Empathie ist der Versuch, sich in die Welt anderer Menschen zu begeben: einerseits intellektuell, um ihre Standpunkte zu verstehen, andererseits emotional, um – im besten Fall – zu fühlen, was das Gegenüber fühlt. Das ist natürlich nie vollständig möglich. Aber diese Leerstelle trägt eben auch zum Gefühl der Empathie bei: Ich weiss, dass ich mich niemals genauso fühlen kann wie du, aber ich fühle mich in dich hinein, ich schaffe eine Verbindung – das ist empathisch.
In ihrem Buch spielt der Schmerz eine grosse Rolle. Sie schreiben von Marathonläufern, die an ihre Grenzen gehen, von Menschen, die sich Krankheiten einbilden, aber auch von eigenen Erfahrungen mit Abtreibung oder Gewalt gegen Frauen. Setzt Empathie Schmerz voraus?
Der Schmerz ist in meinem Buch tatsächlich allgegenwärtig – und er steht in besonderer Verbindung zur Empathie. Wer Schmerzen empfindet, ist viel empfänglicher für Mitgefühl als glückliche Menschen. Schmerz verbindet uns mit anderen Menschen.
Es braucht also immer ein gewisses Mass an Leid, um Empathie zu empfinden?
Nein, Empathie ist auch ohne Leiden fühlbar, genauso wie Schmerz ohne Negativität möglich ist. Die Empathie ist sehr vielschichtig – das versuchte ich, in meinen Essays zu berücksichtigen.
Zum Beispiel in der Geschichte um den 125-Meilen-Marathon in Tennessee. Da geht es um Männer, die sich unter Qualen durch das Rennen beissen. Zwar empfinden sie Schmerz, aber der Genuss und die Befriedigung sind stärker. Hier kommt eine andere Art von Empathie ins Spiel: Ich sorge mich nicht, sondern will verstehen. Wie kann ich nachvollziehen, dass sich Menschen für einen Marathon halb totlaufen?
Durch das Internet sind wir heute mehr als je zuvor dem Innenleben und den Krisen unserer Mitmenschen ausgesetzt. Leben wir in einer Zeit der Empathie?
Auf jeden Fall. Empathie ist allgegenwärtig. Aber sie läuft auch Gefahr, an unserer Übersättigung zu scheitern. Wir sind ständig mit dem Elend anderer Menschen konfrontiert. Das führt dazu, dass wir uns überlegen müssen, wie wir unsere Empathie aufrechterhalten können. Mit der ständigen Konfrontation kommt auch die Angst vor einer Trivialisierung – das Elend wird alltäglich und wir wollen dafür kein Mitgefühl mehr aufbringen.
Wird Empathie je ausgedient haben?
Das glaube ich nicht. Der Mensch war und wird immer Teil von Gemeinschaften sein. Solange er von anderen Menschen umgeben ist, wird ihn interessieren, wie deren Innenleben aussieht. Das hilft ihm, sich und seine Position in der Welt besser zu verstehen. Wie das Zitat des antiken Dichters Terenz am Anfang der «Empathie-Tests» sagt: «Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches, denke ich, ist mir fremd.»