Das Buch «Stress – Ein Lebensmittel» hat eine klare Mission: Uns zu überzeugen, dass Stress zu Unrecht ein schlechtes Image besitzt. Es sei eine bizarre Vorstellung, schreibt der Autor Urs Willmann, dass Stress schlecht für uns sei und nachhaltig unsere Gesundheit ruiniere. Im Gegenteil: Stress mache gesund, glücklich, stark und verlängere das Leben. Solche Lobeshymnen auf ein verteufeltes Gefühl lassen natürlich aufhorchen.
Ohne Stress kein Leben
«Wären die ersten Einzeller nie in Stress geraten, gäbe es keine mehrzelligen Wesen wie den Menschen, die Qualle, den Schneeleoparden und die Nacktschnecke», schreibt der Wissenschaftsjournalist Urs Willmann. Stress sei ein Evolutionstreiber gewesen. Fast bedauernd ergänzt er: «Gelegenheiten, um archaischen Stress zu erleben, sind selten geworden.»
Denn Stress animiere uns auch heute noch zu Höchstleistungen – etwa beim Auftritt vor vielen Menschen, bei einer Prüfung, beim Sport oder gar beim ersten Rendezvous. Kurzfristiger Stress mache uns aufmerksamer, unempfindlich gegen Schmerz, aktiviere und trainiere das Immunsystem und verzögere den Alterungsprozess.
Freiwilliger Stress im Kino
Was der Wissenschaftsjournalist Urs Willmann zu Stress alles recherchiert hat, ist eindrücklich – und kurzweilig. Mal beschreibt er Experimente mit Ratten, mal einen Selbsttest bei Psychologen oder eine Unterredung mit einem Arzt. Willmann findet den positiven Stress an jeder Ecke: Bei der Angstlust im Kino, im Krimi oder in der Kunst beispielsweise – oder im Extremsport.
Macht uns also Stress gar nicht krank, unglücklich und erschöpft, wie wir gemeint hatten? Doch, natürlich! Der schlechte, weil chronische Stress kann uns ernsthaft schaden. Mit Folgen wie Herzkreislaufkrankheiten, Depressionen und Angststörungen.
Mythos ungesunder Stress?
Das verschweigt uns auch Urs Willmann nicht: «Beenden wir unsere Reaktion auf reale oder eingebildete Stressoren zu lange nicht, droht ein chronisches Siechtum». Und: «Fast jede Faser des Körpers kann von chronischem Stress betroffen sein.»
Das Buch «Stress – Ein Lebensmittel» ist also nur halb so provokativ wie es Titel und Vorwort suggerieren. Urs Willmann weist darin mitnichten nach, dass Stress grundsätzlich gut ist, sondern lediglich, dass Stress nicht gleich Stress ist: Manchmal ist er gut, manchmal schlecht. Das ist eine Erkenntnis, die so alt ist wie die Stressforschung selbst. Stress kann – um eine Metapher von Willmann aufzugreifen – durchaus auch zu einer Lebensmittelvergiftung führen.
Sendehinweis: Kultur aktuell, Radio SRF 2 Kultur, 27.06.2016, 16:50 Uhr