Colin Crouch hat vor zehn Jahren mit seinem Buch «Postdemokratie» international für Furore gesorgt. Mit dem Begriff «Postdemokratie» verbindet sich die Annahme, dass die Demokratie immer mehr sinnentleert werde: Wählen und Abstimmen gerieten laut Crouch zunehmend zu einer Imitation von Demokratie. Politik sei heute ein Spektakel ohne Folgen. Und die politische Kommunikation degeneriere zu reiner PR.
Korrumpiertes Wissen
Nun geht Crouch einen Schritt weiter: Er behauptet in seinem neuesten Werk «Die bezifferte Welt», dass Wissen und Kompetenzen vor allem im öffentlichen Sektor, in der Verwaltung und an Schulen gefährdet seien. Dann nämlich, wenn Beamte und Lehrer sich immer mehr nach Kennziffern statt nach fachlichen Kompetenzen ausrichten müssten. Colin Crouch versucht aufzuzeigen, wie der Neoliberalismus unser Wissen bedroht. Dabei nimmt er sich verschiedensten Phänomenen an.
Polizisten, die Leichen in andere Bezirke fahren, damit ihre Gemeinde bei der Erhebung der Kriminalität besser abschneidet. Oder Rating-Agenturen, die so eng mit ihren Auftraggebern verbandelt sind, dass sie unlautere Einschätzungen abgeben. Crouch zeigt an zahlreichen Beispielen, wie Kennziffern und ökonomisches Denken Kenntnisse und Informationen verfälschen und somit exakt zum Gegenteil ihrer Berechtigung werden.
Beschädigtes Selbstbild
Letztlich zielt Crouch auf unser Selbstbild, unser Verständnis als Menschen ab. Denn er ist der festen Überzeugung, dass der Neoliberalismus unser Bild von uns selbst zerstöre: «Um wirklich uneingeschränkt effizient am Markt agieren zu können, müssen wir uns in egozentrische und amoralische Rechenmaschinen verwandeln.»
Nicht nach einem Modell funktionieren, «Nein» sagen, eine Wahl haben – dies ist das Anliegen von Colin Crouch. An unzähligen Beispielen zeigt er, wie der Neoliberalismus genau dieses Abwägen und Auswählen gefährdet. Dabei setzt er wie alle Ökonomen bei der Informationsbeschaffung an. Konventionelle ökonomische Theorien beschäftigen sich mit der Schwierigkeit, an Informationen zu kommen. Crouch geht einen anderen Weg: Er will uns sagen, dass ein überbordendes ökonomisches Denken Informationen verfälsche und zerstöre. Vor allem gefährde eine eingeschränkte Sicht auf uns selbst Werte wie Liebe, Menschlichkeit und Integrität.
Man hätte sich gewünscht, Colin Crouch hätte diesen Aspekt heller ausgeleuchtet, tiefer gegraben. Denn der Ansatz, dass der Neoliberalismus unser Selbstbild drastisch verändere, ist fruchtbar. Aber wie vieles in der neusten Schrift «Die bezifferte Welt» bleibt diese These nur angedeutet. Die grundsätzlichen Argumentationslinien lösen sich in einem Potpourri von Einzelbeispielen auf. Die Lektüre lohnt trotzdem, da man angeregt wird, weiterzudenken und sich Informationen auf anderen Kanälen zu beschaffen. Nach Crouch natürlich Informationen, die nicht nach Clickrates generiert wurden.