Yascha Mounk, was ist eigentlich ein Deutscher?
Yascha Mounk : Die Antwort sollte einfach sein: Ein Deutscher ist derjenige, der die deutsche Staatsbürgerschaft hat. Nach der Definition bin ich ein Deutscher. Aber es gibt noch eine tiefere Definition in den Köpfen der Leute: Man ist nur ein echter Deutscher, wenn man von Deutschen abstammt – wenn man also auf eine bestimmte Art aussieht und Eltern hat, die christlich gewesen sind. Wenn ich erwähne, dass ich jüdisch bin, dann sehen diese Leute einen Gegensatz: Man kann nicht Jude und gleichzeitig Deutscher sein.
Jude und Deutscher, an dieser Paarung reiben Sie sich. Wann wurde Ihnen zum ersten Mal bewusst, dass Sie jüdisch sind?
Das war am ersten Tag des Gymnasiums. Da ging der Lehrer die Klassenliste durch und fragte, ob wir katholisch oder evangelisch seien – wegen des Religionsunterrichts. Als ich an der Reihe war, sagte ich, ich sei irgendwie jüdisch. Alle möglichen Reaktionen hatte ich erwartet – jedoch nicht, dass die ganze Klasse schallend lachte. «Hör auf, Stuss zu erzählen!», hat einer geschrien, «wir wissen doch, dass es die Juden nicht mehr gibt.» Von dem Moment an war ich Exot.
Eine traumatische Erfahrung also, anders zu sein. Haben Sie sich seither als Jude identifiziert?
Bis zu jenem Zeitpunkt war es ein abstrakter Fakt. Ich wusste, dass ich jüdisch bin, so wie ich wusste, in welchem Krankenhaus ich geboren wurde. Seither war mir bewusst, wie wichtig mein Jüdisch-Sein ist. In Deutschland sehen mich die Leute erst einmal als Juden, dann kommt alles andere.
Haben Sie eine Erklärung gefunden, warum man in Deutschland als jüdischer anders als ein christlicher Mitbürger behandelt wird?
Für viele Deutsche ist die Nazi-Vergangenheit und der richtige Umgang mit ihr immer noch identitätsstiftend. Wer sich für das «Dritte Reich» schämt, ist auf eine andere Art Deutscher als jemand, der findet, man solle die Auseinandersetzung mit dem Holocaust endlich hinter sich lassen. Und da es in Deutschland ja nicht viele Juden gibt, schlägt sich diese Identitätsfrage auch auf den persönlichen Umgang miteinander aus. Je nachdem, wie Deutsche es mit der Vergangenheit halten, behandeln sie dann auch «echte» Juden.
Sie empfinden es als unangenehm, wenn Deutsche gegenüber Juden besonders freundlich, fast forciert zuvorkommend sind. Dieser Philosemitismus setzt Ihnen mehr zu als der Antisemitismus. Warum?
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Es ist einfacher, mit Unwissen oder Feindseligkeit umzugehen. Dann kann ich den Leuten stolz auf den Kopf zusagen, dass ich jüdisch bin. Wenn Leute dagegen nervös werden oder mich bevorteilen wollen, ist es viel schwieriger zu wissen, wie man darauf reagieren soll. Obwohl solches Wohlwollen gut gemeint ist, erlebe ich es als besonders entfremdend.
Sie haben sich nach der Schulbildung entschlossen, Deutschland zu verlassen und leben in den USA. Kann man Ihrer Meinung nach heute als Jude in Deutschland nicht mehr leben?
Doch, das kann man – sogar sehr glücklich. Ich glaube aber, dass man als Jude nie so selbstverständlich Deutscher sein kann wie zum Beispiel Amerikaner. Wenn ich meine Cousins frage, ob sie sich amerikanisch fühlen, verstehen sie die Frage nicht einmal. Sie sind einfach Amerikaner. Letztlich geht es mir aber darum, was das für die Zukunft Europas heisst. Wir leben mit immer mehr Einwanderern, nicht nur mit jüdischen. Wie können wir unsere Vorstellung, was ein echter Deutscher, ein echter Schweizer oder ein echter Franzose ist, so verändern, dass wir Einwanderer als natürlichen und vollwertigen Teil unserer Gesellschaft wahrnehmen? Egal welcher Konfession und Hautfarbe. An diesem Punkt ist Europa leider noch nicht.