«Der Tod Gottes und die Krise der Kultur» ist kein einfaches Buch. Man muss sich durchbeissen wollen. Zu zahlreich sind die Namen und Zitate, die Terry Eagleton mit eigenen Gedanken verwebt. Er breitet ein ganzes intellektuelles Koordinatensystem aus, von der Aufklärung über Nietzsche bis zur Gegenwart. Den Gedanken zu folgen fällt bisweilen schwer, weil Eagleton häufig knapp formuliert und ein Höllentempo vorlegt.
Die spirituelle Leere stopfen
Wagen wir eine Zusammenfassung: Vor der Aufklärung waren die Existenz Gottes und der Stellenwert der Religion unbestritten. Zum Streitobjekt machten die Religion erst die Aufklärer. Sie störte hauptsächlich, dass die Religion ein Machtmittel der Obrigkeit war. Die Vernunft sollte den Glauben ersetzen und die Menschen befreien. Die Vernunft wurde, so Eagleton, zu einer Art Ersatzgott.
Die Vernunft sollte nicht der einzige Wert bleiben, den sich die Menschheit suchte, um die spirituelle Leere zu stopfen. Terry Eagleton schreibt: «Solange Vernunft, Kunst, Kultur, Geist, Phantasie, Nation, Menschheit, Staat, Volk, Gesellschaft, Moral oder irgendein anderes trügerisches Surrogat in die Fussstapfen Gottes tritt, ist das höhere Wesen noch nicht tot».
Selbst linke Philosophen denken über Religion nach
Kunst und Kultur wurden mit der Romantik zu Ersatzgöttern, schreibt Eagleton weiter. Sie waren überall und übernahmen die Funktion eines Absoluten, einer höheren Instanz. Dann wurden sie zeitweise durch Werte wie die Nation und das Volk überlagert.
Erst die Postmoderne seit den 1960er-Jahren zerlegte und hinterfragte alles. Und verwirklichte Nietzsches Befund, dass Gott tot sei. Jetzt erst bildete sich laut Eagleton ein «authentischer Atheismus». Dieser erreichte seinen Höhepunkt um die Jahrtausendwende. Doch am 11. September 2001 wurde die Religion wieder in die Welt gebombt.
Beitrag zum Thema
Die «spirituelle Leere des Spätkapitalismus», so Eagleton, werde seither durch Fundamentalisten verschiedener Religionen aufgefüllt. Und selbst linke Philosophen begannen, über Religion nachzudenken. «Selten war der religiöse Glaube unter Ungläubigen so in Mode wie derzeit», schreibt Eagleton und bezieht sich auf diese kapitalismuskritischen Denker.
Religion einzig als ethisches Feigenblatt
Eagleton stellt auch fest: «Neben den linken Reisegefährten gibt es auch noch die Verteidiger des Kapitalismus, die, beunruhigt von seinem rauhen materialistischen Klima, den religiösen Geist gern übernehmen würden, um der Lebensweise des Kapitalismus ein wenig Freundlichkeit und Licht zu verleihen.» Offenbar würden sie dem religiösen Glauben das Potenzial zutrauen, eine rücksichtslose Gesellschaftsordnung aufzubessern.
Eagleton selbst sieht den «wahren Zweck» des Glaubens darin, die soziale Ordnung zu kritisieren. Im Neuen Testament gehe es nämlich darum, gerechte, mitfühlende Gemeinwesen zu schaffen, die sich in «Solidarität mit den Armen und Machtlosen» üben. Dieses Fazit passt zur Person Terry Eagleton. Er ist Marxist und Katholik. Für ihn ist Gott nicht tot.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 10.12.2015, 8:20 Uhr.