Mark Balsiger, Sie beobachten seit vielen Jahren Wahl- und Abstimmungskämpfe. Wird da gerade der öffentliche Raum als Ort der Kommunikation wiederentdeckt?
Tatsächlich. Wir beobachten ein Phänomen, dass es so seit langer Zeit nicht mehr gegeben hat. Die Ursache lässt sich benennen: Vor ziemlich genau zwei Jahren ging ein Weckruf durch die Schweiz. Damals haben wir über die Masseneinwanderungs-Initiative abgestimmt, die ja überraschend angenommen wurde. Das hat sehr viele Menschen – teilweise auch apolitische – nachhaltig aufgerüttelt und verängstigt.
Diese Leute haben sich nun in den letzten Monaten und Wochen gesagt, dass dies nicht wieder passieren soll bei der Durchsetzungsinitiative, die in dieselbe Kerbe schlägt. Sie wollen sich persönlich einsetzen im Freundeskreis oder in der Familie. Und das geht natürlich nicht nur über Online-Kanäle und soziale Medien, sondern vor allem über das persönliche Gespräch am Familientisch, im Treppenhaus und so weiter.
Wie wirksam ist diese Form der Mobilisierung?
Wenn ein persönlicher Kontakt oder direkter Dialog stattfindet und man sich offen zuhört, ist diese Kommunikation wirkungsvoller als beispielsweise eine E-Mail, die abgeschickt, gelesen und verstanden werden muss. Man zieht sich jetzt auch generationenübergreifend wieder zurück in kleinste öffentliche Räume, die in den letzten Monaten generiert wurden – natürlich auch beeinflusst durch den enormen medialen Druck, den die Durchsetzungsinitiative erzeugt hat. Es wird ja seit langer Zeit fast nur noch über diese Initiative gesprochen.
Wie erklären Sie sich dieses verstärkte Engagement im öffentlichen Raum, wenn man doch die eigene Meinung über die sozialen Medien viel einfacher verbreiten kann und damit ein grösseres Publikum erreicht?
Natürlich sind Online-Medien und soziale Medien heute Teil unserer Gesellschaft und werden immer stärker genutzt. Gleichzeitig beobachtet man aber auch eine gewisse Abnützung. Ich erinnere mich an eine Studie von 2015 zur jungen Generation, die eben erst stimm- und wahlberechtigt wurde. Die Quintessenz ist die, dass die 18 bis 25-Jährigen sich am allerliebsten über Politik informieren, wenn sie im vertrauten Kreis zusammensitzen. Also eben nicht via WhatsApp, Facebook oder Instagram.
Ist für Sie dieses grosse Engagement breiter Bevölkerungskreise einmalig oder erkennen Sie einen neuen Trend?
Im Moment ist das schwierig abzuschätzen, da es ein neues Phänomen ist. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass diese Situation in Zukunft regelmässiger der Fall sein wird. Dass sich also eine Repolitisierung der Zivilgesellschaft zeigt, die sich in den letzten Jahren oder Jahrzehnten in der Tendenz eher zurückgezogen und fast alles an die offiziellen Behörden delegiert hat.
Diese Situation wiederholt sich vielleicht auch, weil wir künftig – unabhängig davon, wie die Abstimmung zur Durchsetzungsinitiative ausgeht – weitere problematische Abstimmungsvorlagen zu bewältigen haben, die in eine ähnliche Richtung gehen. Da wird sich diese Repolitisierung hoffentlich wieder zeigen. Unter dem Strich finde ich die Entwicklung positiv, dass nicht nur die etablierten Akteure wie Gewerkschaftsbund, Wirtschaftsverbände und Parteien, sondern eben auch neuere Vereine und vor allem auch Zivilpersonen sich lautstark und engagiert einbringen.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 23.2.2016, 16:45 Uhr