Was wäre, wenn Nelson Mandela nicht gewesen wäre? Die Frage ist eigentlich müssig. Sie ist nicht zu beantworten, da die Geschichte nun mal so verlaufen ist, wie sie ist, und Nelson Mandela 1994 als erster demokratisch gewählter Präsident sein Amt antrat.
Und doch mag man sich fragen, wie Südafrika heute aussähe, wäre Mandela beim Rivonia-Prozess 1964 statt zu lebenslänglicher Haft zum Tode verurteilt worden. Tatsächlich hatten Mandela und sieben mitangeklagte ANC-Genossen mit der Todesstrafe gerechnet. Das war die Höchststrafe für Sabotage, deren sie schuldig gesprochen worden waren. Wären also ohne Mandela heute in Südafrika noch immer die weissen Apartheid-Rassisten an der Macht?
Die Aura menschlicher Würde
Das ist höchst unwahrscheinlich. Das strenge Rassentrennungsregime, das die «Verkrampten», die erzkonservativen Weissen, unter der Führung von Präsident P.W. Botha aufrecht erhalten wollten, war gegen Ende der 1980er-Jahre schon ziemlich angeschlagen. Führende südafrikanische Unternehmen litten unter den internationalen Wirtschaftssanktionen gegen ihr Land und drängten auf Reformen. F.W. de Klerk wurde ihr Mann, als er als neuer Präsident anfangs 1990 Mandela freiliess.
Zu diesem Zeitpunkt kannten De Klerk und die Reformwilligen um ihn ihren neuen Verhandlungspartner schon recht gut. Von 1986 an hatten sie mit dem bis dahin verteufelten Mandela Geheimgespräche geführt. Sie hatten festgestellt, dass sie es mit einer aussergewöhnlichen Persönlichkeit zu tun hatten und waren wie alle, die später mit ihm zu tun hatten, von seiner Aura berührt, einer Aura menschlicher Würde.
Ungebrochen, auch nach dem Gefängnis
Nichts hatte Mandela brechen können, nichts ihm diese Aura zu nehmen vermocht. Nicht die erniedrigenden Gesetze der Apartheid, die den Schwarzen Grundeigentum verbot, sie in bestimmte Gebiete verbannte und Ungehorsam mit brutalster Staatsgewalt bestrafte. Nicht die schikanöse Strafarbeit auf der Gefängnisinsel Robben Island, wo Mandela und die Mitgefangenen im gleissenden Sonnenlicht den weissen Kalkstein zerkleinern mussten, Mandelas Augen waren zeitlebens dadurch geschädigt. Und auch nicht die jahrzehntelange, penible Alltagsroutine im Gefängnis.
Mandela blieb sich treu, blieb der Aufgabe treu, die er sich selber auferlegt und im Rivonia-Prozess in Worte gefasst hatte: «Ich habe gegen die weisse Vorherrschaft gekämpft. Und ich habe gegen schwarze Vorherrschaft gekämpft. Ich habe das Ideal einer demokratischen und freien Gesellschaft hochgehalten, in der alle Menschen in Harmonie und mit gleichen Chancen zusammenleben. Es ist ein Ideal, für das ich zu leben hoffe und das ich verwirklicht sehen möchte. Aber, Herr Gerichtspräsident, es ist ein Ideal, für das ich wenn nötig auch zu sterben bereit bin.» So lehnte Mandela 1985 auch das Freilassungsangebot ab, mit dem ihn Präsident Botha köderte. Er könne nicht frei sein, solange sein Volk nicht frei sei, sagte er.
Der Geist der Versöhnung
Zu Mandelas Würde und Prinzipientreue kam noch etwas Weiteres: der Geist der Versöhnung. Dieser war in den schwierigen Verhandlungsjahren zwischen 1990 und 1994 immer wieder gefordert, als dem Land ein Bürgerkrieg drohte. Die Auseinandersetzungen zwischen Heissspornen der Inkatha-Partei, die von der Volksgruppe der Zulu dominiert wird, und solchen des von Xhosa bestimmten ANC nahmen immer gewalttätigere Formen an.
In letzter Minute gelang es jedoch, die Inkatha-Partei dazu zu bewegen, an den ersten demokratischen Wahlen Südafrikas teilzunehmen. Auch in Mandelas erster Regierung, an der die meisten politischen Kräfte im Land beteiligt waren, zeigte sich diese Versöhnlichkeit.
Politik der Versöhnung
Gleichzeitig aber ist Mandelas Wirken auch das Resultat seines politischen Scharfsinns. Er hat sich immer als Teil der politischen Bewegung ANC verstanden, hat sein Tun immer mit den anderen Anführern diskutiert und abgestimmt. Personenkult war ihm fremd.
Dasselbe lässt sich von denen, die ihm seither gefolgt sind, nicht so leicht sagen. Zwar gilt offiziell nach wie vor eine Politik der Versöhnung. Doch sowohl Thabo Mbeki, als auch Jacob Zuma haben mitunter anti-Weisse Gefühle, die es in der schwarzen Bevölkerung gibt, benutzt, um die eigene Popularität zu steigern. Beide haben als Präsident ohne Skrupel ihre Machtfülle auszuweiten getrachtet. Präsident Zuma geht sogar so weit, die Macht der Justiz eindämmen zu wollen. Ein Präsident wie Mandela fehlt Südafrika.