Die Sachlage ist klar: Über 1‘100 Patienten warten derzeit in der Schweiz auf ein Spenderorgan, davon rund 900 auf eine Niere. Um eine gerechte Verteilung zu gewährleisten, werden die Organe Herz, Leber, Lunge, Niere, Bauchspeicheldrüse und Dünndarm an die Organempfänger auf der Warteliste mittels eines Computerprogramms verteilt.
Die Ethikerin und Theologin Dr. Ruth Baumann-Hölzle ist Leiterin des interdisziplinären Instituts für Ethik im Gesundheitswesen der Stiftung Dialog Ethik. Sie gibt Einschätzungen ab zu den ethischen Fragen der Organspende.
Nicola Steiner: Frau Baumann-Hölzle, dass ein lebender Mensch das Recht auf Unversehrtheit des Körpers hat, ist unbestritten. Doch endet dieses Persönlichkeitsrecht mit Eintritt des Todes? Wichtig und umstritten ist ja auch der Zeitpunkt des Todes.
Ruth Baumann-Hölzle: Das Verständnis, wann ein Mensch tot ist, hängt vom jeweiligen Menschenbild ab. Manche haben die Vorstellung, dass der Mensch eine Seele hat, die einige Tage braucht, um sich vom Körper zu lösen. In Gegensatz dazu betrachten andere den Menschen als tot, wenn bestimmte Hirnfunktionen – nicht einmal das Gesamthirn – ausgefallen sind. Die Hirntod-Definition ist besonders heute sehr umstritten. Selbst die Ärzte an der Harvard Medical School, die einst den Hirntod als neues Todes-Kriterium eingeführt haben, geben heute zu, dass man sich getäuscht habe. Hirntote seien nicht tot.
Organspende ist faktisch Tötung
Damit steht man aber vor dem Problem, dass die Organentnahme faktisch eine Tötung darstellt. Diese Ärzte plädieren daher dafür, dass man die so genannte «dead donor rule», also die Regel, wonach man Organe erst nach dem Tod des Patienten entnehmen darf, aufgeben solle und dass man die Tötung des Patienten im irreversiblen Koma als gerechtfertigt, als «justified killing», zulassen sollte.
Der stetige Organmangel hat besonders heute zur Folge, dass der Personenkreis, der für Organentnahme in Frage kommt, erweitert wird: Die Revision des Transplantationsgesetzes in der Schweiz schlägt z.B. vor, dass Menschen bereits zu Lebzeiten als Urteilsunfähige, sogar ohne dass man ihren direkten Willen kennt, auf der Intensivstation für die Organentnahme vorbereitet werden dürfen. Organe werden in der Schweiz heute schon auch dann entnommen, wenn der «Hirntod» nicht von selbst eingetreten ist, sondern erst als Folge des Entscheides, lebenserhaltende Intensivmassnahmen abzustellen.
Hinter der Nachfrage steckt auch Machtanspruch
Was heisst eigentlich aus ethischer Sicht eine gerechte Verteilung der Organe bei Organknappheit?
Je kränker ein Mensch ist, desto geringer ist oft die Chance, dass das Organ nach der Transplantation gut funktioniert. Gemäss dieser Logik müsste man also so früh wie möglich transplantieren, um maximale Organfunktionalität zu erreichen. Diese Tatsache steht dem Fakt gegenüber, dass ja eigentlich jeder Mensch früher oder später aufgrund seiner Sterblichkeit und altersbedingten Abbauprozesse Organbedarf hat. So gesehen muss man sich fragen, ob wir es tatsächlich mit einem Versorgungsmangel medizinischer Art zu tun haben. Hinter der Nachfrage steckt auch der Machtanspruch, Leben, Krankheit und Tod kontrollieren zu wollen.
Grösstmöglicher medizinischer Nutzen. Was heisst das aus ethischer Perspektive?
Dies lässt sich ethisch nicht abschliessend beurteilen. Die im Transplantationsgesetz festgeschriebenen Kriterien, Dringlichkeit, Nachhaltigkeit und Wartezeit sind unter Umständen einander ausschliessende Momente. Je länger ein Patient auf der Warteliste steht, desto geringer ist unter Umständen die Nachhaltigkeit einer Organspende.
Welche Rolle spielt das Kriterium der «Selbstverschuldung»? Hat aus ethischer Sicht ein Raucher dasselbe Recht auf eine Lunge wie ein Nichtraucher?
Krankheit sollte nicht zur Schuld werden. Meines Erachtens wäre das so genannte Club-Modell, in einer angepassten Form, der bessere Weg: Wenn ich den Anspruch habe, einmal ein Organ zu bekommen, muss ich auch meine eigene Bereitschaft zur Organspende bekunden. Die Spendenbereitschaft sollte jedoch erst dann in den Zuteilungsentscheid einfliessen, wenn zwei Menschen in gleicher Art und Weise medizinisch für ein Organ qualifiziert sind. Für Menschen, die ein Organ brauchen, selber aber aufgrund ihrer Ausgangssituation nie ein Organ spenden könnten, sollten Ausnahmen gemacht werden.
Alter darf nicht per se entscheidend sein
Und das Alter? Hat ein 96-Jähriger dasselbe Recht auf ein Organ wie ein 14-Jähriger, der sein ganzes Leben noch vor sich hat?
Es gibt kein «Recht» auf ein Organ. Man spricht nicht von ungefähr von «OrganSpende». Sobald wir das Alter als ethisches Entscheidungskriterium nehmen, besteht die Gefahr, dass alte Menschen als «nicht mehr lebenswert» betrachtet werden. Weil es sich bei den Organen aber um ein knappes und höchst wertvolles Gut handelt, ist die Aussicht auf möglichst langes Funktionieren ein wichtiges, wenn auch nicht abschliessendes Kriterium.
Wenn also der 14-Jährige die Aussicht hätte, mit einem Organ nur noch zwei Wochen zu leben und der 96-Jährige noch zwei Jahre, würde dies eher für den 96-Jährigen sprechen. Alle 96-Jährigen haben jedoch bereits mehrfache Erkrankungen, so dass Organe nicht nachhaltig verpflanzt werden können. Die Nachhaltigkeit kann aber auch bei einem jungen Menschen aufgrund seiner Erkrankung nicht gegeben sein. Das Alter darf per se aus Gründen der Gleichheit kein ethisches Merkmal sein.