Die Psychologin und Kindheitsforscherin Alice Miller setzte sich für Kinder ein. Sie kämpfte für das Recht von Kindern auf Empathie und auf eine gewaltfreie Erziehung. Ihr Buch «Das Drama des begabten Kindes» gilt als Schlüsselwerk der Erziehungsliteratur. Die Psychologin zeigte in Ihrem Werk, wie Kindern aufgrund eigener Traumata Unrecht getan wird und wie diese sie zeitlebens prägen.
Nun hat Alice Millers Sohn Martin Miller ein Buch veröffentlicht. In «Das wahre ‹Drama des begabten Kindes›» beschreibt er seine Jugend und Kindheit als Sohn von Alice Miller – und wie es der Mutter nicht gelang, ihre eigenen Grundsätze umzusetzen. Er sei als Sohn immer abgeschoben worden, ins Heim, ins Internat, zu Bekannten. Er habe sich als Fremder in der eigenen Familie gefühlt. Dennoch verteidigt er in seinem soeben erschienen Buch die Theorien seiner Mutter. Wie geht das zusammen? Psychoanalytiker Peter Schneider gibt Auskunft.
Peter Schneider, ist das Buch Martin Millers eine Art freundlicher Muttermord?
Es ist weder Muttermord noch ist es freundlich. Man hat wirklich den Eindruck einer katastrophalen Kindheit und Jugend, die Martin Miller mitgemacht hat. Und das hat nichts von einer symbolischen Abrechnung. Ich glaube, es ist unter dem Eindruck des Konflikts geschrieben. Der Sohn hatte sich erhofft, in seinem eigenen Leben an der Theorie der Mutter, die ja die Traumata der Kinder ganz in den Mittelpunkt rückte, irgendwie teilhaben zu können. Es ist also kein Abrechnungsbuch, wie man es vielleicht sonst gewohnt ist, das man als literarischen Muttermord bezeichnen könnte.
In der Psychoanalyse ist das Mutter-Sohn-Verhältnis ein wichtiges Thema. Passiert jetzt ein Stück Verarbeitung dieses Verhältnisses zwischen Alice und Martin Miller in der Öffentlichkeit?
Ich schätze das Buch zwiespältig ein. Es ist eben tatsächlich keine Auseinandersetzung mit der Theorie Alice Millers, die ich an sich schon sehr zweifelhaft finde. Die wird unverrückt und unkritisiert gelassen. Die Kritik richtet sich darauf, dass die Mutter selbst aufgrund ihrer traumatischen Erfahrung als polnische Jüdin, die sich verstecken musste und ein sehr schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter hatte, ihre eigenen Theorien in der Erziehungspraxis nicht umsetzen konnte.
Nun kann man aber – von so etwas wie einem gesunden psychoanalytischen Menschenverstand aus – umgekehrt auch sagen, dass das ja nicht so wundersam ist. Dass diese Extremfokussierung auf das traumatisierte Kind, eigentlich eine recht verrückte Reaktion gewesen ist. Nicht im klinischen, aber doch im alltäglichen Sinne. Ausserdem muss man sagen, dass diese Interna, die von Martin Miller im Buch beschrieben werden, so intern auch nicht waren, sondern als Klatsch und Tratsch in der Zürcher psychoanalytischen Gemeinschaft durchaus schon kursierten.
Relativiert jetzt Martin Millers Werk dasjenige seiner Mutter?
(Zögert) Jein. Er versucht, es eben gerade nicht zu relativieren. Er hält an den Erkenntnissen in den ersten Publikationen Alice Millers theoretisch fest. Die hält er tatsächlich für das Erbe der, wie man sagt, wichtigsten Kinderforscherin unserer Zeit.
Wenn man das allerdings unbefangen liest, muss man sich doch wundern, dass Martin Miller die Verknüpfung nicht gemacht hat. Dass er nicht sieht, wie das, was er tragischerweise am eigenen Leib erleben musste, eben auch mit dieser seltsamen Theorie Alice Millers verknüpft ist. Die helle und die dunkle Kehrseite von ein und derselben Geschichte, wobei man jetzt nicht immer ganz genau sagen kann, was die helle und was die dunkle Seite ist.
Die ganze Theorie von Alice Miller hat von Anfang an etwas unangenehm Monothematisches. Sie verarbeitet darin, wenn ich mal spekulieren darf, auch ihre eigenen Traumata. Wenn es also so etwas wie eine Art Muttermord gibt, dann ist es eher der Muttermord Alice Millers an ihrer Mutter, den sie in ihrem ganzen Werk vollzieht. Und weniger der Muttermord Martin Millers an Alice Miller.