Hier die säkulare Stadt, dort das taditionell-religiöse Landleben – diese Gleichung stimmt nicht mehr. Längst zeigt sich in Megacitys wie Istanbul oder Lagos, dass Religion ein bedeutender Faktor ist, der das Gesicht, das Innenleben wie auch die Wirtschaft dieser Metropolen prägt. Soziologen, Städteforscher und Religionswissenschaftler untersuchen, wie Religionsgemeinschaften zunehmend städtischen Raum erobern und welche Auswirkungen dies auf die Stadtentwicklung hat. Besonders in rasant wachsenden Grossstädten von Schwellenländern entstehen ganze Stadtteile, die nach den eigenen religiösen Regeln funktionieren.
Eine religiöse Stadt in der Stadt
Zum Beispiel das Redemption Camp (Camp der Erlösung) im nigerianischen Lagos: eine Art riesige Gated Community mit 20‘000 Einwohnern, eingerichtet von der Redeemed Christian Church of God, Nigerias größter Pfingstkirche. Das Camp ist eine Stadt in der Stadt mit eigener Universität, Spitälern, Schulen und Supermärkten.
In Istanbul entstand die muslimische Wohnsiedlung von Basaksehir, ein riesiges Wohnviertel für 55‘000 moderne Muslime aus der wachsenden Mittelschicht. In den Cafés und Restaurants gibt es keinen Alkohol und die religiösen Gesetze sind im Alltag wichtig. Die türkische Stadtforscherin Eda Yücesoy sagt, Istanbul sei nicht religiöser geworden, aber die religiösen Gruppen seien sichtbarer und schafften sich Platz für ihre Bedürfnisse und Regeln:
Zürich: Jenseits der Josephswiese
Längst sind auch in Schweizer Städten die Kirchen urbaner geworden. In den letzten Jahren entstanden in Zürich zahlreiche Citykirchen. In Bahnhöfen, am Flughafen und in Einkaufszentren gibt es Orte des Gebets und der Ruhe. Mitten im Kreis 5, am Rand der Josefswiese, bietet das Jenseits in den Viaduktbögen einen Raum, wo nicht in erster Linie missioniert werden soll.
Hier finden kleine Verantaltungen, Konzerte, Lesungen statt, aber es ist auch einfach auch ein Raum zum Durchatmen und Diskutieren – diesen Sommer gab es zum Beispiel eine Velosegnung. Das Programm richtet sich an eine kirchenferne Klientel –Jugendliche, Intellektuelle, Künstler.
Keine Oase in der städtischen Wüste
Projektleiter Peter Kubikowski will keine Oase der Stille anbieten, denn dies unterstellt den Stadtmenschen, dass sie gestresst sind und dass die Stadt eine Wüste sei: «Man muss die Stadt erstmal akzeptieren und verstehen, wie sie tickt, wie sie aufsteht, wie sie ins Bett geht, was sie nachts macht, wie es am Tag aussieht.»
Zürich-West hat sich in den vier Jahren, in denen das Jenseits sein nicht-kommerzielles Angebot betreibt, schon stark verändert. Auf der Josefswiese, die vor dem Schaufenster liegt, treffen ganz unterschiedliche Gruppen aufeinander: Pétanque-Spieler, alteingesessene Quartierbewohner oder zahlungskräftige Job-Hopper, die modernen Arbeitsnomaden. Und an den Wochenenden, dominiert nachts das Partyvolk mit ganz anderen Bedürfnissen.
Seelsorge über die Theke
Ob das kein Spagat ist für seine Arbeit? Kubikowski spricht von einer Augenblicks- oder Thekenseelsorge: «Über einem Bier oder einem Kaffee kommt man ins Gespräch. Oft wissen die Leute gar nicht, dass das Jenseits von der katholischen Kirche mitgetragen ist. Plötzlich erzählt jemand, dass er vor kurzem seine Mutter verloren hat, dann bist du in so einem Apéro-Modus, aber doch in einem ernsthaften Thema. Hier sind oft Leute, die nicht in Kirchen gehen, aber die vielleicht später wieder mal hierher kommen, das ist für mich gut so.»
Jugendarbeit im Kreis 4
Die reformierte Streetchurch im Zürcher Kreis 4 fokussiert stärker auf die soziale Jugendarbeit. Für den Zürcher Jugendpfarrer Markus Giger, der auch als Gefängnispfarrer arbeitet und unter anderem den jugendlichen Straftäter Carlos betreut, funktioniert Spiritualität bei Jugendlichen nicht ohne Verbindung zu ihrem Alltag: «Zuerst kommen ihre Probleme. Wir haben eine unglaublich anspruchsvolle Gesellschaft. Wer in dieser Gesellschaft erfolgreich sein will, der braucht enorm viele Voraussetzungen, die viele junge Menschen nicht mehr in dem Mass mitbringen. Sie waren vielleicht schulisch schwach, und kombiniert mit einem desolaten Daheim führt das oft zu einem ersten Scheitern. Dann stranden sie bei uns. Diese jungen Menschen brauchen Unterstützung, ihre Alltagskompetenzen reichen nicht. Wir unterstützen und begleiten sie.»
Rapper machen Kirchenmusik
Für Markus Giger sollen die Jugendlichen wissen, dass die Streetchurch ein christliches Profil hat und von der reformierten Kirche getragen ist. Er lädt sie zu Gottesdiensten, etwa in der Offenen Kirche St. Jakob ein. Das Markenzeichen ist die Musik: «Wir haben uns festgelegt auf den weiten Bereich der Black Music, sind aber auch für anderes offen. Aber es ist der Bereich, wo wir auch eigene Kreationen haben. Unsere Rapper machen neue, eigene Kirchenmusik, in der sie ihre Sicht der Welt, des Glaubens, und ihre Zweifel in Texte giessen und im Gottessdienst performen.» Diese sehr urbanen Formen seien auf dem Land nicht denkbar, es gebe keine meditative Ruhe, sondern man eröffne mit einem deftigen Beat.
Stadt und Religion – das kann eine fruchtbare Mischung sein. Dass sich dabei sowohl die Stadt als auch die Form der Religion verändern können, gehört dazu.