«Cultura para convivir», «Kultur für das Zusammenleben»: Das Motto klingt ehrgeizig. In San Sebastián sollen sich während des Jahres als europäische Kulturhauptstadt nicht die Stadt, sondern ihre Bewohner ändern. «Wir haben jahrzehntelang unter dem ETA-Terror und seinen Folgen gelitten», sagt Xabi Paya, künstlerischer Leiter des Programms. «Jetzt kann uns die Kultur helfen, ein neues Miteinander zu finden.» Möglich machen sollen das Theaterstücke, die Opfer- und Täterrollen hinterfragen, biographische Filmprojekte, Schreibwerkstätten.
Das Erbe der Gewalt
Harkaitz Cano nimmt am Literaturprogramm «Tschechow vs. Shakespeare» teil. Der baskische Dichter und Schriftsteller spürt in seinen Werken dem Erbe der Gewalt nach. Sein preisgekrönter Roman «Twist» basiert auf der Geschichte von Lasa und Zabala, zwei ETA-Mitgliedern, die in den 1980er-Jahren von spanischen Anti-Terror-Einheiten gefoltert und ermordet wurden. «Lange Zeit war es unmöglich, über solche Themen zu schreiben, ohne in eine bestimmte Ecke gestellt zu werden», sagt Cano. «Fünf Jahre nach dem Waffenstillstand der ETA ändert sich das nun – zum Glück.»
Cano führt zur Skulptur einer stilisierten weissen Taube am Surferstrand Zurriola. Früher trafen sich Demonstranten unter der Statue. Heute ist sie Teil des Kunstboulevards, zu der auch Eduardo Chillidas windumtoste Eisenkralle «Peine del Viento» und Jorge Oteizas «Leere Konstruktion» gehören.
Wallfahrtsort für Gourmets aus aller Welt
An der Strandpromenade flanieren elegante Damen mit onduliertem Haar, Herren im Anzug führen ihren Hund spazieren. Donosti, wie die Basken San Sebastián liebvoll nennen, ist eine wohlhabende Stadt. «Bürgerlich und sehr konservativ», sagt Cano. Daran hat auch der Tourismus wenig geändert. Das Kurbad an der Atlantikküste ist schon lange kein Geheimtipp mehr. Mit drei Drei-Sterne-Restaurants lockt San Sebastián Feinschmecker aus aller Welt. In den Bars der Altstadt sind «Pintxos» das kulinarische Vorzeigeprodukt: auf eine Scheibe Weissbrot aufgespiesste Köstlichkeiten.
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Auf dem Tresen von «El Cepo» stapeln sich mit Krebsfleisch gefüllte Paprika, Gänseleber mit Zwiebelconfit, Chorizo-Würstchen. Harkaitz Cano angelt sich eine «Gilda», einen Pepperoni-Oliven-Anchoa-Spiess, vom Tablett. Kaum vorzustellen, dass in der gleichen Bar Mitte der 90er-Jahre der stellvertretende Bürgermeister erschossen wurde. Auf einem Transparent gegenüber fordern Anwohner die Verlegung von ETA-Häftlingen ins Baskenland.
Kultur als Balsam für die Wunden
«Kein Wunder, dass ausgerechnet der Heilige Sebastián der Stadt den Namen gibt», sagt Harkaitz Cano beim Gang nach draussen und deutet auf die Märtyrer-Statue über dem Barockportal der Basilika. «Jeder will beweisen, dass er der eigentliche Sebastián ist, mehr gelitten hat als alle anderen.»
Kann Kultur tatsächlich helfen, Wunden zu heilen? Xabi Paya, der Programm-Direktor, ist überzeugt davon. Immerhin hätten bei den Planungen Politiker jeder Couleur zusammen gearbeitet. Harkaitz Cano will sich nicht festlegen. «Vielleicht», sagt er, «schafft das Jahr Raum für neue Erzählungen.» Auch das wäre Balsam für San Sebastiáns Wunden.