«Die Schüsse von Sarajevo» von 1914, die Olympischen Winterspiele von 1984, die Belagerung von 1992 bis 1995. Das sind die Jahreszahlen, die man mit der Stadt an der Miljacka in Verbindung bringt. Holm Sundhaussen, bis zu seiner Emeritierung Professor an der Freien Universität Berlin, erzählt nun die Geschichte der 310 000 Einwohner zählenden Stadt – von der Gründung 1462 durch den osmanischen Heerführer Isa-Beg Isakovic bis in die Gegenwart.
Nationalistische Filter
Die Diskussion um geschichtliche Fakten sei in Bosnien-Herzegowina emotional aufgeladen, was eine nüchterne Betrachtung fast unmöglich mache, sagt der 72-jährige Sundhaussen. Die Verhärtung der Positionen ist ein Ergebnis des Bosnienkriegs von 1992-95, als in den Wirren der Auflösung Jugoslawiens die neuen Nationalstaaten Serbien und Kroatien ihr Territorium in Bosnien-Herzegowina gegeneinander arrondieren wollten – auch auf Kosten der Bosniaken, der muslimischen Bevölkerung. Begleitet wurde dieser brutale Krieg durch laute nationalistische Rhetorik, die die Diskussionskultur des Landes bis heute prägt.
«In Bosnien ist fast alles ‹heikel› und umstritten», schreibt Holm Sundhaussen. Und zwar, wie er im Gespräch mit SRF 2 Kultur präzisiert, «weil nahezu alles durch das jeweilige nationale Raster wahrgenommen und gedeutet wird. Das lässt sich nicht auf einen Nenner bringen. Zu unterschiedlich sind vor allem die in der Regel nicht hinterfragten Prämissen: Wenn man zum Beispiel, wie bei vielen Serben seit Mitte des 19. Jahrhunderts üblich, Bosnien-Herzegowina als serbische Länder versteht, kommt man zu völlig anderen Ergebnissen als diejenigen, die es als kroatische Länder betrachten, oder als die, die es als eigenständige Länder mit einer spezifischen Geschichte verstehen.»
Problemarmes Nebeneinander
Bis Mitte des 19. Jahrhunderts verlief das Nebeneinander von Muslimen, Orthodoxen, Katholiken und sephardischen Juden laut Sundhaussen in Sarajevo jahrhundertelang «weitgehend ohne Konflikte». Der Nationalismus, der wie anderswo in Europa auch im osmanischen und ab 1878 österreichischen Sarajevo um sich griff, bedeutete das Ende dieser problemarmen Koexistenz.
Im sozialistischen Jugoslawien (1945-92) seien die Nationalismen wieder in den Hintergrund getreten. Es sei entstanden, «was es in Sarajevo angeblich immer schon gab: Interkulturalität». Und «diese Interkulturalität wurde in den 1990er-Jahren gezielt zerstört».
Leiden an den Kriegsfolgen
Wie ganz Bosnien leide Sarajevo an den Folgen des Krieges von 1992-95, stellt Holm Sundhaussen fest: «Es leidet an einer gespaltenen, traumatisierten, verarmten Gesellschaft, an einer von der internationalen Gemeinschaft implementierten Verfassung, die einen funktionierenden Staat unmöglich macht, und an der Unfähigkeit einer hochprivilegierten Politikerschicht, die vor allem an den Erhalt ihrer Privilegien denkt und sich weigert, Lösungen im Interesse der Bevölkerung zu suchen.»
Drei Staatspräsidenten, 140 Minister, unzählige Staatssekretäre und Beamte – jeweils auf die drei religiös definierten Bevölkerungssegmente von insgesamt 3.8 Millionen Einwohnern aufgeschlüsselt (Serben, Kroaten, Bosniaken). Ein Staatsdickicht, das 50 Prozent des Bruttoinlandprodukts schluckt. Im Grunde gäbe es Arbeit genug, um das Land und seine Hauptstadt wieder aufzurichten.