Tobias Brandner, Sie leben und arbeiten seit 1996 in Hongkong. Was hat Sie damals hierher gebracht?
Ich habe bereits in der Schweiz im Gefängnis gearbeitet – in Regensdorf. Dort habe ich gemerkt, dass die christliche Gefängnisseelsorge eine sehr bedeutsame Arbeit ist. Und ich wollte unbedingt im Ausland arbeiten, als ich die Stelle hier in Hongkong ausgeschrieben sah, wusste ich: Das ist es. Ich habe mich dann bei der Basler Mission – heute Mission 21 in Basel – beworben.
Und wie unterscheidet sich Ihre Arbeit in Hongkong von Ihrer Arbeit in der Schweiz?
Die Haftbedingungen sind viel härter: Die Gefangenen können sich praktisch nicht frei bewegen, die Zellen sind karg, dürfen nicht individuell gestaltet werden. Langeweile ist das grösste Problem in den Gefängnissen, darum freuen sich die Häftlinge immer besonders, wenn ich komme. Schon nur alleine, weil ich Abwechslung bringe oder manchmal auch Gäste von aussen mitbringe. Die Gefangenen haben so wenigstens etwas Kontakt zur Aussenwelt.
Bemerkenswert ist aber, dass, obwohl die Haftbedingungen und Strafen hier viel härter sind als in der Schweiz, die Stimmung im Gefängnis besser ist. Das hat viel mit der asiatischen Kultur zu tun, wo negative Gefühle nicht gezeigt werden. Man will ja nicht das Gesicht verlieren. Das hat mich am Anfang sehr irritiert, aber mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt. Ja ich kann dem sogar etwas Positives abringen: Denn wer negative Emotionen einfach «streut», sät quasi noch mehr Negativität.
Wie muss ich mir Ihre Arbeit konkret vorstellen? Gehen Sie bewaffnet in die Zellen rein oder sprechen Sie hinter Glasscheiben mit den Häftlingen?
Nein, ich bewege mich ganz frei. Ich hatte auch noch nie Angst, obwohl mir da manchmal echt düstere Gestalten gegenüber stehen. Aber da spielt sicher auch mein «Ausländer-Sein» eine Rolle: Ich komme von so weit ausserhalb, dass sich die Gefangenen mir anvertrauen können. Vor mir können sie ihr Gesicht nicht verlieren. Und konkret laufe ich durch die Gefängnisse, durch die Gänge und wechsle zwei, drei Worte da, tausche einen Handschlag dort. So versuche ich, mit möglichst vielen in Kontakt zu kommen.
Ich kann nicht mit allen Häftlingen, die ich an einem Tag sehe, tiefe Gespräche führen, aber schon nur alleine in diesen kleinen Begegnungen kann ich ihnen etwas geben. Dass ich Kantonesisch, die Sprache, die in Hongkong gesprochen wird, gelernt habe, macht das natürlich einiges einfacher. Ein zweiter Aspekt meiner Arbeit sind Gottesdienste, die ich zusammen mit Besuchern gestalte, etwa mit Studierenden der «Divinity School of Chung Chi», so etwas wie die Theologischen Fakultät von Hongkong.
Sie bewegen sich in einem Umfeld, wo das Christentum erst mit den Missionaren im 19. Jahrhundert, auch im Zuge der britischen Kolonialisierung, hinkam. Wie sehr können Sie denn christliche Gefängnisarbeit leisten – oder sind Sie einfach willkommene Unterhaltung?
Ich muss nicht ins Gefängnis gehen und dort mit den Gefangenen möglichst viel über den lieben Gott oder über Jesus reden, damit meine Arbeit christlich ist. Die christliche Qualität meiner Arbeit kommt durch meine Haltung zustande. In den Begegnungen mit den Männern versuche ich ihnen zu zeigen, dass sie wertvoll sind, dass sie geliebt werden.
Auch wenn sie vom Gericht für ihre Taten verurteilt worden sind, so verurteile ich sie nicht. Denn ein Mensch ist immer mehr als seine Tat. Man kann niemanden auf seine Tat zu reduzieren, denn die Lebensrealität ist immer komplexer als etwa ein Label wie «Mord» oder «Vergewaltigung». Und das ist die Verkündigung, die ich leiste: Ich lebe etwas von dem, was wir im Christentum als Vergebung bezeichnen.
Wie sind Sie zu dieser Theologie gekommen? War es Ihre Theologie, die Ihre Arbeit geprägt hat, oder umgekehrt?
Ganz klar hat die Arbeit meine Theologie geprägt. Zum einen habe ich erst durch die Gefängnisseelsorge erkannt, dass wir alle das Potenzial zum Bösen in uns haben. Unsere Seelen sind teilweise Mistgruben, das kann ich aus eigener Erfahrung sagen. Nur weil wir uns ausserhalb der Gefängnismauern bewegen, heisst das noch lange nicht, dass wir die Guten sind.
Zum anderen wurde mir die Kategorie der Verletzlichkeit bewusst. Wir fügen nicht nur Verletzungen zu, sondern sind selber auch unheimlich verletzlich. Und Gott hat sich christlich gesprochen offenbart als verletzlich, er ist nicht der Blitze werfende «Superhero»-Gott; er ist ein Gott der Verletzlichkeit, der sich in der Ohnmacht von Folter und dem Tod am Kreuz von Jesus gezeigt hat. Das habe ich im Gefängnis sehr eindrücklich gelernt. Auch die Insassen sind nicht nur grobe und wüste Gesellen, sondern haben auch etwas sehr Weiches und Verletzliches.