- Das «Ereignis» von Schweizerhalle markiert eine politische und gesellschaftliche Wende: Demonstrationen gegen die «Chemie» begannen, Misstrauen gegen die Konzerne entstand.
- Chemiekonzerne legten danach offen, wie sie mit Umweltrisiken umgehen und gegenüber dem Gemeinwesen Verantwortung wahrnehmen wollten.
- Schweizerhalle markierte auch das Ende einer bestimmten Art von Chemie. Eine neue Technologie hielt Einzug: die Gentechnik. Und diese galt sogar als risikoreicher.
Zuerst war es wie ein böser Traum. Um vier Uhr, so meine Erinnerung, das Heulen von Sirenen, dann Polizeiwagen in den Strassen. Die Durchsage, Fenster und Türen zu schliessen und das Haus nicht zu verlassen. Dann der einsetzende, penetrante Gestank. Die Anrufe von Freunden, besorgt, alarmiert, aufgeschreckt.
Endalarm, irgendwann, nach sechs
Unglauben, dass die Region Basel von einer Katastrophe heimgesucht werden könnte, wie in Bhopal, wie in Seveso. Zwischendurch Todesangst, genährt auch durch die Durchsagen am Radio.
Als man sich auf die Strasse wagte, noch immer im beissenden Geruch, kam man mit fremden Leuten ins Gespräch. Die Betroffenheit, die Angst, sie war mit Händen zu greifen, sprach aus jedem Satz, der gesagt wurde.
Bruch mit einem Selbstverständnis
Die Nacht des 1. Novembers 1986 markierte den Bruch mit einem Selbstverständnis. Die Basler Chemie, die ein Jahrhundert lang der Region Wohlstand, Arbeit, Reichtum beschert hatte, sie kehrte sich in jener Nacht gegen die eigenen Bewohner. Gegen jeden einzelnen. Aber das «Ereignis» von Schweizerhalle markiert auch eine politische, eine gesellschaftliche Wende.
Angezeigt wurde sie durch die Demonstrationen gegen die «Chemie», durch die Plakate von toten Fischen, die überall hingen, sie machte sich bemerkbar dadurch, dass man mit einem Mal den Beschwichtigungen nicht mehr glaubte. Einem Marc Moret nicht mehr glaubte, dem Chef von Sandoz, und all den anderen auch nicht.
«Aktion Selbstschutz»
Bald nach «Schweizerhalle» wurde die «Aktion Selbstschutz» gegründet, eine Organisation, die schon in ihrem Namen aufzeigte, worum es ging: Sich selber zu schützen, durch Aktionen das Heft selber in die Hand zu nehmen.
Und auch, sich selber aktiv mit der Basler Chemie auseinanderzusetzen, mit ihren Geschäftspraktiken, weltweit. Aber auch mit ihrer Vergangenheit; auch bei der Frage, wo die Basler Chemiefirmen über Jahre ihren giftigen Müll deponiert hatten.
Konzernpolitik «Risikodialog»
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Auch für die Chemiekonzerne markierte der 1. November eine Zäsur: Nicht Marc Moret, der patriarchale Boss von Sandoz, sondern Alex Krauer, damals CEO von Ciba Geigy, erkannte, dass die Basler Konzerne aktiv und offen mit der Bevölkerung kommunizieren müssen. Denn die Bevölkerung, so viel war gewiss, würde sich nicht mehr mit Verlautbarungen, mit Beruhigungen abspeisen lassen.
Man war in der «Risikogesellschaft» angekommen in jener Nacht. Das hiess, nach dem Soziologen Ulrich Beck, dass man in einer unberechenbaren Welt lebte. In einer Welt, in der sich nicht mehr alles voraussagen, berechnen, kontrollieren liess.
Das Stichwort hiess «Risikodialog». Dazu gehörte, dass die Konzerne mit einem Mal sich mit besorgten Bürgerinnen und Bürgern an einen Tisch setzten. Johannes Randegger, damals Betriebsleiter bei Ciba-Geigy, brachte die Idee der «Stinksäcke» auf, mit denen man stinkende Luft einfangen konnte, und zur Analyse bei der Firma vorbeibringen konnte.
Eine neue Ära beginnt
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Die Zeit nach Schweizerhalle war auch der Beginn jener Ära, in denen sich Chemiekonzerne (nicht nur in Basel) sogenannte Corporate Social Responsibility Guidelines gaben, mit denen sie offen legten, wie sie mit Umweltrisiken umgehen, wie sie kommunizieren, wie sie gegenüber dem Gemeinwesen Verantwortung wahrnehmen wollten.
Wirklich effektiv waren solche Massnahmen alleine nicht. Es bedurfte auch staatlicher Massnahmen, etwa die neu geschaffene Störfallverordnung, die 1991 in Kraft trat, um sicherzustellen, dass den Worten auch Taten folgten.
Neues Risiko Gentechnologie
Schweizerhalle, als Ereignis, markierte auch das Ende einer bestimmten Art von Chemie. Denn bald schon hielt in den Fertigungshallen der neuen Novartis, der Roche und anderer, einen neue Technologie Einzug: die Gentechnik.
Sie galt für viele als weitaus risikoreicher als die klassische Chemie, denn die Gefahr, dass sich gentechnisch manipulierte Lebewesen in der freien Natur ausbreiten könnten, dass sie dort mutieren, sich fortpflanzen und grossen Schaden anrichten könnten – dieses Risiko schien vielen weitaus grösser, als ein Lager mit Agrochemikalien, das in Brand gerät.
Der «Basler Appell» wird gegründet
1988 bereits wurde der «Basler Appell gegen Gentechnologie» gegründet, 1991 errang der «Basler Appell» einen ersten Sieg, als es gelang, den Bau des «Biotechnikums » von Novartis vor Bundesgericht zu verhindern – zu risikoreich, befanden auch die Richter. Nur baute Novartis das «Biotechnikum» dann einfach auf der anderen Seite der Grenze, in Huningue.
Bald schon schlossen sich schweizweit Naturschutzorganisationen zur «Schweizerischen Arbeitsgruppe Gentechnologie» zusammen, der Bundesrat setzte Kommissionen zur Risikobewältigung in der Gentechnik ein.
Es war die Geburtsstunde weltweiter Netzwerke, die begannen, den Grosskonzernen auf die Finger zu schauen.
Globale Risiken
Die Risiken der Gentechnik, sie waren zu globalen Risiken geworden, und die Debatte darüber hatte sich globalisiert. Die Frage, welches Saatgut eine Firma wie Syngenta den Bauern in Indien verkauft, war zu einem lokalen Thema geworden.
Und ebenso die Frage, ob Novartis seine Patente für ein Aidsmedikament in Südafrika freigibt. Lokale Ereignisse, wie die von Schweizerhalle in jener Nacht, gab es in dieser Art nicht mehr.