Côte d'Azur: Per Helikopter geht es vom Flughafen Nizza zu einem piniengesäumten Anwesen weitläufigen Zuschnitts. Die Einladung kommt plötzlich, aber sie hat einen klaren Sinn: «Die Lage ist ernst.»
Eine Frau zur Stabilisierung gesucht
Freunde sind besorgt um den Zustand des Mannes, der seit Gründung seines Magazins «Der Spiegel» zu den einflussreichsten Personen der deutschen Öffentlichkeit zählt. Rudolf Augstein ziehe sich zunehmend zurück, sei depressiv und trinke zu viel, finden seine Freunde in Südfrankreich.
Es fehle eine Frau, die richtige Frau an seiner Seite, obwohl Augstein zu dieser Zeit im Mai 1978 bereits in vierter Ehe mit der Autorin Gisela Stelly lebt. Eine Frau fürs Praktische soll es sein, eine Art Betreuerin, eine, die den angeschlagenen «Spiegel»-Chef psychisch und physisch stabilisiert. Ihr Name: Irma Nelles.
Nelles, geboren und aufgewachsen in libertär-katholischem Milieu an der nordfriesischen Küste, lehnt jedoch ab, zweifelsfrei. Sie beschreibt die Szene jetzt, Jahrzehnte später, in ihren Memoiren, den sehr eigenwilligen Aufzeichnungen über einen sehr eigenwilligen Mann.
Der Tyrann der Redaktion
Als Sekretärin ist sie mit Mitte zwanzig im Bonner Büro des Nachrichtenmagazins eingestiegen. In eine Atmosphäre männerbündischer Wichtigkeit und ebenso lässig-laxem Umgangston. Das ändert sich nur, wenn der Herausgeber aus Hamburg kommt, und Krawattenzwang plötzlich die Flure dominiert.
Schon die Bonner Novizin spürt da die Aura der Macht und die Veränderungen, die sie bewirkt. Es kommt zur ersten knappen Begegnung, bei der sie schon etwas vom Tyrann der Redaktion ahnt, vom Presse-Tycoon, der die von ihm abhängigen Mitarbeiter nach Laune dirigiert.
Eng wird die ungewöhnliche Arbeitsbeziehung mit Augstein erst, als Nelles ab 1984 fest beim Spiegel arbeitet. Zuerst in der Leserbrief-Redaktion, dann als seine Büro-Leiterin. Eine Zeitlang wohnt sie auch in Augsteins leerstehender Zweitvilla am Hamburger Leinpfad, als es neuerliche Avancen für eine sexuelle Beziehung gibt. Wieder folgt die Ablehnung, wie Nelles schreibt, was an Augsteins Nähe und Interesse scheinbar nichts ändert.
Beiträge zum Thema
- «Der Spiegel»: Kampf Print vs. Online (Echo der Zeit, 5.12.14)
- «Der Spiegel» und die Affäre Barschel (Tageschronik, 12.9.2013)
- «Der Spiegel»: Erstausgabe vor 66 Jahren (Tageschronik, 4.1.2013)
- «Spiegel-Affäre»: Kampf für Pressefreiheit (Kontext, 25.10.2012)
- Rudolf Augstein gestorben (Tagesschau, 7.11.2002)
Psychogramm eines Exzentrikers
Klatsch gibt es kaum in diesen Erinnerungen, keine Enthüllungen und aufbereiteten Skandale, dafür aber Szenen und Psychogramme eines grossen Exzentrikers. Da ist die Fahrt im Heissluftballon, bei der Augstein spontan das Kommando übernimmt und bei Absturzgefahr das Gefährt halbwegs sicher zu Boden bringt.
Oder wie er zwei Einbrecher in seiner riesigen Stadtvilla geistesgegenwärtig mit lächerlichen 50'000 Mark zum Abzug bewegt. Als Anekdoten kann man das schlecht erfinden. Es zeigt spontan kaltblütige Momente mit Witz und Glück neben solchen der Verlassenheit und des Selbstzweifels.
Die Abgründe des Machtmenschens
Denn der legendäre Intellektuelle, Menschenspieler und Womanizer hat selbst immer mehr das Gefühl, den Faden verloren zu haben. Zu öffentlichen Auftritten und strategischen Entscheidungen muss er sich jetzt durchkämpfen. «Das schlimmste ist die Vergeblichkeit», sagt er einmal zu Irma Nelles. Der Mord an Olof Palme und der Tod Uwe Barschels gehen ihm nah, sein zynisches Wesen tritt zurück und macht Platz für die Wachträume aus der Kriegszeit.
Augsteins Alkohol- und Tablettensucht wird deutlich, neben seiner nach wie vor sehr eigenen Position zur Politik im Land und der Machtpolitik im eigenen Unternehmen. Irma Nelles blieb an Augsteins Seite bis zu seinem Tod im November 2002. Noch zuletzt hatte sie ihn im Krankenhaus besucht. Ihre Erinnerungen beginnen mit einer Szene des Abschieds.
Sendung: SRF 2 Kultur, Kultur Aktuell, 3.6.2016, 8.20 Uhr.