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Ein Mädchen fotografiert sich selbst.
Legende: Das Selfie – der Versuch das perfekte Bild von sich zu verbreiten. iStock

Gesellschaft & Religion Selfies – Kopfschüsse in einer sinnentleerten Welt?

Rund 1,8 Milliarden Bilder landen im Netz – täglich! Darunter abertausende Selfies. Doch die Abbilder des Selbst sind weder authentisch, noch haben sie mit dem wahren Ich viel gemein. Davon ist der Philosoph Andreas Brenner überzeugt. Er geht mit dem epidemischen Phänomen hart ins Gericht.

Vor allem unter Jugendlichen läuft das Selfie-Spiel oft so ab: Man inszeniert sich und knipst drauflos. Nicht ein, zwei oder drei, sondern Dutzende von Fotos. Schliesslich will man der Welt ein ganz bestimmtes Bild von sich zeigen. Ein vermeintlich perfektes Leben: attraktiv, cool, sexy. Denn das Foto muss dem digitalen Wettbewerb standhalten. Man will beweisen, dass man es mit der grossen weiten Welt aufnehmen kann.

Entsprechen Konterfei und Körper nicht dem Idealbild des digitalen Zeitalters, kommen Apps und Photoshop ins Spiel. Es wird retuschiert, manipuliert, korrigiert. Man misst sich nicht nur mit der scheinbar makellosen Freundin, sondern auch mit digitalen Nachbarn. Mit Justin Bieber, Katy Perry und ganz Hollywood. Der Konkurrenzkampf unter den Selfies ist unerbittlich. Der Druck enorm.

Klagen über zu wenige Likes

Wer genügend Reflexion und Selbstvertrauen hat, mag die Scheinwelt durschauen. Vielen gelingt dies aber nicht. Gerade Jugendlichen in der Selbstfindungsphase kann der Wettbewerb zusetzen. Vermehrt rufen Mädchen bei der Stiftung Pro Juventute an und klagen über zu wenige Likes. Sie finden sich hässlich, fühlen sich der Welt nicht gewachsen. Mögliche Folgen sind Depression oder Magersucht.

Im Frühjahr sorgte die Geschichte des 19-jährigen Engländers Danny Bowman für Schlagzeilen: Er versuchte sich das Leben zu nehmen, weil ihm das perfekte Selfie nicht gelang. Trotz 200 Versuchen pro Tag.

Ich fotografiere mich, also bin ich

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Der Philosoph und Dozent Andreas Brenner verfolgt die Entwicklung der Generation Selfie mit grosser Skepsis. In der Sucht der permanenten Präsenz im Netz sieht er einen Narzissmus, der konsequent in eine Vereinsamung führt und einen Ausdruck der Sinnleere darstellt. «Die Menschen erleben so wenig Sinn in der Welt, dass sie ihn selber zu produzieren versuchen und gleich beim Kern des Schöpfungsaktes ansetzen, nämlich bei der Schöpfung ihrer selbst», sagt Andreas Brenner.

In der permanenten Neugeburt seiner selbst sieht Brenner auch eine Selbstvergewisserung. «Viele Menschen sind anscheinend unsicher, ob sie überhaupt noch da sind. Und es kommt ein fast göttlicher Anspruch dazu: Ich bin Kreator meiner selbst, brauche keine anderen Kräfte, letztlich auch keinen anderen Menschen, deshalb ist das ein so autistisches, abgeschlossenes System.»

Die freiwillige totale Kontrolle

Andreas Brenner geht mit der totalen Kontrolle des Gesellschaft hart ins Gericht: «Mit der permanenten Präsenz im Netz haben wir eine Gesellschaft der totalen Kontrolle geschaffen, so wie das die Science-Fiction-Autoren des frühen 20. Jahrhunderts, Orwell und Huxley, vorhergesagt hatten. Ganz ohne Druck. Die Menschen fotografieren sich gerne selber, setzen ihre Daten ins Netz, legen Datenspuren, die abgerufen und vermarktet und von Sicherheitsbehörden aufgegriffen werden können. Das heisst, sie erledigen freiwillig den Job, den eigentlich andere erledigen sollten, wenn er überhaupt notwendig wäre.»

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