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Porträt von Josef Schovanec vor schwarzem Hintergrund.
Legende: Kosmopolit und Autist: Josef Schovanec. Sphères

Gesellschaft & Religion «Sind die anderen verrückt, oder bin ich es?»

In den depressiven Momenten fühlt er sich staatenlos, in den manischen als Weltbürger: Der Asperger-Autist Josef Schovanec ist am liebsten unterwegs auf Reisen. Seine Geschichte hat er im Buch «Durch den Wind» festgehalten, das eben auf Deutsch erschienen ist. Ein bewundernswert humorvolles Zeugnis.

Manche halten ihn für ein Genie, andere für einen Idioten. Oder für besoffen. Josef Schovanec ergänzt: «Wieder andere haben eine weitere Erklärung: Ich bin schwul. Ganz eindeutig. Man muss nur einmal schauen, wie ich gehe. Falls ich irgendwann nach Saudi-Arabien reise, muss ich also aufpassen. Lernen, wie ein Pinguin zu gehen.»

Unerbittlicher Beobachter

Wir treffen den 33-jährigen Autisten und Savant in Basel, wo er im Literaturhaus sein eben auf Deutsch erschienenes Buch «Durch den Wind» vorstellt. Vor ausverkauftem Haus. Und das, obwohl ihm viele Menschen und Lärm ein Gräuel sind. Freunde würden ihn deshalb auch als Masochisten bezeichnet.

Buchhinweis

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Josef Schovanec: «Durch den Wind. Savant und Autist: ein einzigartiges Zeugnis», Verlag sphères, 2015.

Denn Schovanec hat gelernt, seinen inneren Widerständen zum Trotz, sich zu kontrollieren, hat intensives Sozialtraining betrieben, um sich unter Leute zu wagen und in unserer Gesellschaft akzeptiert zu werden. Ein ungeheurer Kraftakt. Womöglich seine grösste Hilfe: sein Humor. Der unerbittliche Beobachter macht sich liebend gerne über alles und jeden lustig, auch über sich selbst: «Mit meiner Schwierigkeit, Namen, Gesichter und Personen zusammenzubringen, könnte ich definitiv niemals bei der Polizei arbeiten», schmunzelt er.

In der Fremde weniger stigmatisiert

Der diplomierte Politikwissenschaftler und Doktor der Philosophie spricht rund ein Dutzend Sprachen, vielleicht sogar noch mehr. Über die genaue Anzahl will er keine Auskunft geben. «Unwichtig», findet er. «Sprachen interessieren mich nur deswegen, weil sie mir den Zugang zu alten Dokumenten, insbesondere des Mittleren Ostens, ermöglichen.» Sprachen, Bücher, Reisen sind Schovanecs Obsessionen. Am liebsten ist er rund um den Globus unterwegs, denn in der Fremde werde er weniger stigmatisiert als zuhause in Frankreich. Richtig heimisch fühlt er sich in Bibliotheken; nachts, wenn alle Besucher nachhause gegangen sind.

Gnadenlos ehrlich

Der Sohn politischer Flüchtlinge aus Tschechien wuchs in der Nähe von Paris auf. Zu sprechen begann er, lange nachdem er lesen und schreiben konnte. Mit acht konnte er einen Vortrag über Astronomie halten, jedoch kein zwischenmenschliches Gespräch führen. Schovanec: «Man kann Nobelpreisträger sein und nicht wissen, wie man auf angemessene Weise grüsst. Das sind zwei völlig unterschiedliche Fähigkeiten.»

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In der Schule wurde er täglich von seinen Kameraden verprügelt. Rückendeckung von den Lehrkräften bekam er nicht. Josef war strebsam, pünktlich, schrieb gute Noten, Mathematik ging von allein. Aber: Er war gnadenlos ehrlich. «Spätestens wenn man als Schulkind mit sechs oder sieben Jahren zu seinem Entsetzen bemerkt, dass die Lehrerin nicht einmal den Nachfolger von Ramses II. oder die Magnitude von Sirius kennt: Warum ihr dann überhaupt zuhören?»

Mit Medikamenten vollgepumpt

Mit 17 bestand Schovanec das Abitur mit Bestnote, studierte an einer Eliteuni. Doch der zwischenmenschliche Umgang blieb ein unbezwingbares Hindernis. Er versuchte, Unterstützung von einem Coach zu bekommen. Doch er geriet nur an Psychiater, die ihn mit Medikamenten vollpumpten, bis zum körperlichen Zusammenbruch. Der Einweisung ins Irrenhaus entkam er wiederholt nur knapp.

Trotz allem schaut Schovanec mit Humor auf diese Zeit zurück: «Ohne die Sitzungen bei den Psychiatern hätte ich Wichtiges versäumt und wäre ein Psychopath geblieben, ohne es zu wissen. Und das ist, wie wenn man Millionär ist, ohne es zu wissen, ziemlich schade.»

Bücher für mehr Toleranz

Eine Frage ist geblieben: «Ob auf dieser Welt die anderen verrückt sind oder ich». Unsere Gesellschaft ist Schovanec bis heute ein Rätsel. Die sozialen Codes, Spielregeln, Normen: nicht nachvollziehbar. Vieles ist für ihn schlicht Heuchelei. Oft wähnt er sich in einer Komödie.

Noch immer wird Josef Schovanec schubladisiert und stigmatisiert. «Dabei könnten wir voneinander lernen», ist er sich sicher. Der Botschafter in Sachen Autismus und Integration wird weiterhin um die Welt reisen, um für seine Überzeugung zu kämpfen. Und Bücher schreiben, die uns nicht nur den Autismus näher bringen, sondern uns dazu auffordern, einen neuen Blick auf unsere Gesellschaft und unser Zusammenleben zu werfen. Bücher für mehr Akzeptanz und Toleranz. Chapeau, Monsieur Schovanec.

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