Rico Valär, was hat Sie so fasziniert an den rätoromanischen Mundartaufnahmen von 1926?
Rico Valär: Dass diese Töne mich auf eine Zeitreise mitgenommen haben. Man hört Leute, die im 19. Jahrhundert geboren wurden, die einem direkt ins Ohr von der damaligen Welt erzählen. Darum wollte ich diese Aufnahmen unbedingt der Öffentlichkeit zugänglich machen.
Damals hatte man für Tonaufnahmen so genannte Phonographen, 100 Kilogramm schwere, riesige Apparaturen. Wie kamen die nach Graubünden?
Die wurden aus Berlin mit einem Spezialisten in einem eigenen Eisenbahnwagen nach Chur gefahren. Die Sprecherinnen und Sprecher – Bauern, Lehrer und Hausfrauen aus allen Winkeln Graubündens – mussten nach Chur reisen, um eine Sprechprobe in ihrem rätoromanischen Idiom zu geben. In einer Aufnahme thematisiert ein Bauer aus Rueras im Bündner Oberland seinen Unwillen, die dringende Arbeit auf dem Feld und im Stall zurückzulassen und die lange Reise in die Kantonshauptstadt auf sich zu nehmen, um in diesen «Trichter» zu sprechen.
Sprachbeispiele aus drei unterschiedlichen Regionen
Sprachbeispiele aus drei unterschiedlichen Regionen
Wie haben die Sprachwissenschaftler die Bergbevölkerung denn von ihrem Vorhaben überzeugt?
Das war offenbar gar nicht so einfach, wie ein NZZ-Artikel aus der Zeit belegt. Die Linguisten suchten in jedem Dorf Menschen, die den lokalen Dialekt noch am authentischsten sprachen. Sie wollten am liebsten Bauern für ihre Aufnahmen, weil sie davon ausgingen, dass Bauern weniger mobil seien und dass höhere Bildung den Dialekt zerstöre. Aber gerade die Bauern waren besonders schwer vom Sinn der Aufnahmen zu überzeugen – weshalb schliesslich auch einige Lehrer zum Handkuss kamen.
War es denn damals schon ein Thema, dass das Rätoromanische aussterben könnte?
Zwar interessierten sich die Sprachwissenschaftler für alle Dialekte der Schweiz – auch für die deutschen, französischen und italienischen. Das Phonogrammarchiv der Universität Zürich lud in den 1920er-Jahren jedes Jahr Professor Albert Doegen aus Berlin mit seinem Phonographen ein, um die Dialekte eines Landesteils aufzunehmen. Aber bei den rätoromanischen Idiomen und Dialekten hatten die Aufnahmen noch eine zusätzliche Bedeutung. Schon damals war die Sprache in gewissen Gegenden wie dem Domleschg auf dem Rückzug. Heute wird in manchen dieser Dörfer fast nur noch deutsch gesprochen, etwa in der Gegend von Thusis.
Sind diese Tondokumente für die heutige Zeit deshalb besonders wertvoll?
Auf jeden Fall sind sie besonders interessant, weil man in eine dialektale Welt hineinhören kann, die es heute so nicht mehr gibt. Diese Aufnahmen fast ausgestorbener Dorfdialekte klingen in den Ohren eines Rätoromanen von heute besonders urchig.
Auch in den Dörfern, wo heute noch Romanisch gesprochen wird, hat sich die Sprache in den 90 Jahren verändert. Was sind die grössten Veränderungen?
Zum Beispiel wurden damals zahlreiche Wörter verwendet, die man heute kaum mehr kennt. Zu jener Zeit war der Grossteil der rätoromanischen Bevölkerung Bauern. Geräte wie «Milchbrenten» oder «Kornhisten» – Tragkonstruktionen aus Holz, in denen man Heu oder Gerste trocknete – gehören heute nicht mehr zu unserem Vokabular.
Die Sprache hat sich also stark verändert, wie das Leben in den Bergen überhaupt. Gibt es auch Dinge, die gleich geblieben sind?
Ja. Der Sprecher aus Bergün erzählt beispielsweise vom Brauch, dass die Jugendlichen immer, wenn ein Ochse oder ein Rind geschlachtet werden sollte, das Tier entführten und als «Lösegeld» einen Teil der Würste erpressten. Solche Geschichten von Streichen der Dorfjugend, der «Giuventüna», gibt es mehrere auf den Aufnahmen. Die Kultur der Jugendvereine gibt es bis heute in vielen rätoromanischen Dörfern, ich habe das in Zuoz selber erlebt.