Ronald Jones sass im US-Bundesstaat Illinois ein Jahrzehnt lang in der Todeszelle. Charles Irvin Fain während 17 Jahren im US-Bundesstaat Idaho und Curtis McCarty während 18 Jahren in Oklahoma. Was die drei Männer gemeinsam haben: Sie alle büssten für Kapitalverbrechen, die sie nicht begangen hatten. Der Hinrichtung entkamen sie nur dank DNA-Analysen, die ihre Unschuld zweifelsfrei bewiesen.
Diese und weitere Beispiele finden sich auf der Website des «Innocence Projects». Die vor 21 Jahren gegründete unabhängige Non-Profit-Organisation hat sich zum Ziel gesetzt, mittels DNA-Beweisen möglichst viele Unschuldige aus US-Gefängniszellen zu holen und gleichzeitig das amerikanische Strafrecht zu verbessern.
Von den über 2,2 Millionen Menschen in US-Haftanstalten sitzen nach Schätzung des «Innocence Projects» Zehn- bis Hunderttausende schuldlos hinter Gittern – zum Teil seit Jahren und Jahrzehnten. So etwa Michael Morton aus Texas. 1987 verurteilte ein Gericht den unbescholtenen, jungen Familienvater wegen Mordes an seiner Frau zu lebenslanger Haft. Die Anklage behauptete, Morton habe seine Frau totgeschlagen, weil sie keinen Sex mit ihm haben wollte.
Kein Gehör – keine Gnade
Schon bei seiner Festnahme beteuerte der Angeschuldigte öffentlich seine Unschuld: «Ich habe das nicht getan», sagte er den Medienleuten ganz ruhig, als ihn die Polizei sechs Wochen nach der Bluttat zu Hause abholte und ihm den dreijährigen Sohn förmlich aus den Armen riss. – Niemand wollte ihm glauben.
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Erst die beharrliche, akribische und jahrelange Arbeit des «Innocence Projects» brachte die Wahrheit an den Tag: Mittels DNA-Analysen konnten die Anwälte zweifelsfrei belegen, dass Morton nicht der Täter war. Aber nicht nur das: Die Suche in einer DNA-Datenbank führte auch zum wahren Mörder. Kurz nachdem dieser Mortons Frau getötet hatte, beging er in einem angrenzenden Landkreis eine ähnliche Tat.
Manipulation der Anklage
Die minutiöse Recherche des «Innocence Project» brachte noch weitere Ungeheuerlichkeiten ans Licht: die Anklage hielt 25 Jahre lang Indizien zurück, die Morton als Tatverdächtigen zweifellos entlastet hätten. In einer Zeugenaussage gab Mortons Schwiegermutter zu Protokoll, der 3-jährige Sohn habe den Täter gesehen und beschrieben. «Das war nicht Daddy», sagte der Bub damals. «Wäre das bei der Gerichtsverhandlung bekannt gewesen, wäre es wohl gar nicht erst zu seiner Verhaftung gekommen», sagt David Loftis, Leiter des achtköpfigen Teams von Prozessanwälten beim «Innocence Project».
Lange Jahre kämpfte Michael Morton hinter texanischen Gefängnismauern gegen Hass, Bitterkeit und Hoffnungslosigkeit an. Er studierte Psychologie, suchte im Glauben und in der Spiritualität Halt und Sinn. Doch als ihm sein Sohn mit 13 Jahren schrieb, er wolle künftig keinen Kontakt mehr mit ihm, da knickte der sanftmütige Mann endgültig ein. «Das hat mich gebrochen», erzählt er mit tränenerstickter Stimme in einem Dokumentarfilm, der am 5. Dezember auf CNN ausgestrahlt wird (siehe Box).
Gerechtigkeit, nicht Rache
Seit Oktober 2011 ist Michael Morton wieder ein freier Mann – ohne Hass, Bitterkeit und Rachegefühle. Der US-Bundesstaat Texas hat ihm inzwischen 2,5 Millionen Dollar Haftentschädigung bezahlt. Doch die 25 verlorenen Jahre, den Schmerz und das Leid, vermag kein Geld der Welt zu «ent-schädigen».
Immerhin wird der Hauptverantwortliche, Staatsanwalt Ken Anderson, 27 Jahre nach den skrupellosen Manipulationen, nun doch noch zur Rechenschaft gezogen. Ein texanisches Gericht hat ein entsprechendes Verfahren eröffnet. Es dürfte weit über den US-Bundesstaat hinaus ein Warnschuss sein für andere Staatsanwälte im Land, die das Recht zu beugen versuchen. Anderson ist vor zwei Wochen per sofort als Staatsanwalt zurückgetreten. In einer halbherzigen Entschuldigung hat er «das System» für das Fehlurteil verantwortlich gemacht.
Und Michael Morton? Er und sein Sohn sind sich inzwischen wieder innig verbunden. Und nicht nur das: Der inzwischen 58-Jährige ist kurz nach seiner Freilassung auch noch Grossvater geworden. Seine Enkelin trägt den Namen Christine. So hiess Mortons Ehefrau, die er so liebte und um die er wegen der traumatischen Umstände seiner damaligen Verhaftung gar nicht richtig trauern konnte.